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346 haben selber keine Arbeit.“ und „Schreinerlehrling nehmen wir keinen.“ Und
so weiter. Und dann hat die Mutter in Schruns gefragt, bei der Neyer dort als
Zimmermann. „Nein, das möchte ich nicht, ich möchte in die Werkstatt.“ Ja,
da hätten sie momentan keine Arbeit. Das ginge nicht. […] Dann hat sie [eine
Bekannte, Anm.] dort gefragt, bei „Kasper Herman und Söhne“, die haben
gesagt: „Ja, ich könne kommen.“ Dann bin ich dort hingekommen, und bin
drei Jahre dort unten gewesen. Denken Sie! Heute hat ein Lehrling vom ersten
Tag an einen Lohn! Ich habe müssen das Kostgeld sogar zahlen! Und erst im
letzten, im dritten Jahr habe ich damals ein bisschen Geld gehabt! Ja. Habe ich
umsonst gearbeitet. Das sind andere Zeiten gewesen. Und ich bin ein starker
Junger gewesen.
Ein immer wiederkehrendes Thema in den Erzählungen ist die Schwierigkeit,
einen Arbeitsplatz zu bekommen, und die große Konkurrenz unter den jungen
Männern. Speziell von den Zwischenkriegsjahren und den Jahren nach dem Zwei-
ten Weltkrieg, in welchen Zeitraum das Jugendalter der Erzähler ja fällt, wird
berichtet, dass aufgrund des Mangels an Lehr- oder Arbeitsplätzen jede Arbeits-
möglichkeit angenommen werden musste. Die Arbeitsplätze erfüllten nur selten
die Wünsche der jungen Männer, weshalb Erzählungen von Anstrengung, Schwie-
rigkeiten oder Widerwillen im Vordergrund stehen.
IJ erwähnt den Umstand, als Lehrbub stets mit anstrengenden und lästigen
Aufgaben betraut worden zu sein, erinnert sich an heute unvorstellbar lange
Arbeitszeiten und spricht auch körperliche Gewalt an, die in einem Lehrverhält-
nis während seiner Jugendzeit noch durchaus verbreitet war. Auch JQ spricht die
schlechte arbeitsrechtliche Situation an, wenn er seine langen Arbeitszeiten und
Wochenendeinsätze im Unternehmen seines Onkels beschreibt. JQs Darstellung
repräsentiert zahlreiche Erzählungen, die von höchstem Einsatz für den Beruf
sprechen, der unter anderem aufgrund des Arbeitsplatzmangels und der warten-
den Konkurrenz erbracht werden musste. PP beschreibt abschließend die großen
körperlichen Anstrengungen im landwirtschaftlichen Bereich, seinen Widerwillen
gegen diese Arbeit sowie die Schwierigkeiten, eine andere Arbeitsstelle zu finden.
Mit dem Hinweis „Denken Sie! Heute hat ein Lehrling vom ersten Tag an einen
Lohn! Ich habe müssen das Kostgeld sogar zahlen!“ spricht PP klar den Wandel an,
der die letzten Jahrzehnte in der Lehrlingsausbildung prägte.
Der Wandel, dem alle Berufsfelder in der einen oder anderen Art unterlagen,
stellt einen wichtigen Erzählstoff in den Erzählungen vom beruflichen Werdegang
dar. Während PP im letzten Ausschnitt die verbesserten Umstände für Lehrlinge
anspricht, thematisieren andere ErzählerInnen Veränderungen im Ausrüstungs-
oder Werkzeugbereich, verbesserte Sicherheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz,
einen höheren Grad der Technisierung, ein arbeitnehmerInnenfreundlicheres
Arbeitsrecht etc. Nachfolgend sollen zwei Ausschnitte beispielhaft aufzeigen, wie
die ErzählerInnen den Einfluss eines allgemeinen äußeren Wandels auf das eigene
Berufsfeld beschreiben:
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439