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374 Im ersten Ausschnitt hält sich der Erzähler JJ in Bezug auf das Kennenlernen sei-
ner Frau besonders kurz und ergänzt diese Episode seiner Lebensgeschichte auch
an anderer Stelle im Interview nicht mehr. JJs Auslassung fällt besonders auf, da
er im Interview sonst sehr ausführlich und frei spricht. CDs und EFs Darstellun-
gen ähneln einander insofern, als beide Erzähler in einer Anekdote schildern, wie
sie ihre Frau kennenlernten, und die Erzählung unvermittelt mit dem Datum der
Heirat abschließen. CD weist noch auf die Anzahl der gemeinsamen Kinder hin
und repräsentiert mit diesem Muster der Anekdote, gefolgt von Heiratsdatum und
Kinderanzahl, die wohl häufigste Darstellung der Familiengründung – wohlge-
merkt aus männlicher Perspektive. Auch KK als Frau beschreibt, unter welchen
Umständen sie ihren Mann kennenlernte, und schließt mit dem Heiratsdatum ab,
sie gerät bei ihrer Darstellung allerdings aus dem Erzählfluss. Im fortgeführten
Interview wird deutlich, dass KK unsicher in Bezug auf die Form der Darstellung
dieser Jahre ist, da ihre Ehe als zweite Frau beträchtliche Auswirkungen auf den
näheren Familienkreis hatte. In allen Darstellungen bleiben sowohl emotionale als
auch körperliche Liebe völlig unerwähnt. Dass es voreheliche sexuelle Beziehung
überhaupt gegeben haben könnte, darauf weist EFs Bemerkung „halt befreundet
gewesen, aber nie etwas mit ihnen gehabt“ hin, mittels der er ja gerade sexuelle
Kontakte ausschließen möchte.
Dass Liebe an sich in den lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht thematisiert
wird, obwohl sie einen derart zentralen lebensbegleitenden Aspekt menschlichen
Seins darstellt, kann einerseits mit der Interviewsituation erklärt werden, in der
sich – wie das Beispiel JJs besonders verdeutlicht – die ErzählerInnen teils bemü-
hen, professionell und sachlich über die persönliche Lebensgeschichte und die
Geschichte des Tales zu informieren, und Emotionen, persönliche Zwiespälte und
Misserfolge oder auch empfundene Schwächen weitestgehend aus ihren Darstel-
lungen ausklammern.
Andererseits wurden die ErzählerInnen während ihrer ersten Lebensjahr-
zehnte in einer Gesellschaft sozialisiert, die Liebe und besonders Sexualität aus-
schließlich in die privaten (ehelichen) Schlafzimmer verbannte und öffentlich
gewordene sittliche Entgleisungen auf verschiedenste Art sanktionierte. Hier han-
delt es sich auch um eine kulturelle Komponente dessen, was erzählbar ist und
was nicht. Schließlich wurde schon in der klassischen Erzählforschung festgestellt,
dass Brautwerbung und Heirat eine große Rolle im Märchen spielen, die eigent-
liche Erotik allerdings ausgeklammert bleibt.473 Diese Struktur spiegelt sich auch
im alltäglichen Erzählen wider: „Die glückliche Heirat wird gewöhnlich berichtet;
das Erotische aber ist zu subtil und wird von der Grundschicht erzählend nur dort
gemeistert, wo es zugleich auch verlacht wird – im Schwank und im Witz.“474 Wäh-
rend des Nationalsozialismus schließlich wurde Sexualität erneut eng mit Repro-
duktion verknüpft und Frauen vor allem auf ihre Mutterrolle reduziert.
473 Bausinger: Strukturen des alltäglichen Erzählens. S. 245.
474 Bausinger: Strukturen des alltäglichen Erzählens. S. 245.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439