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380 Alle drei Erzählungen dokumentieren ganz klar den Stellenwert der Heirat für
Frauen als Ausweg aus einer schwierigen sozialen oder wirtschaftlichen Situation.
Abgesehen von der auffallenden Verknüpfung des Ehestandes mit wirtschaftlicher
und sozialer Sicherheit – abseits von Liebe, Emotion und Leidenschaft – können
in den ersten beiden Erzählungen keine besonderen Merkmale für Mustererzäh-
lungen festgestellt werden.
IJ hingegen macht, wie dies bereits am Beispiel zahlreicher anderer Erzähl-
stoffe herausgearbeitet wurde, gleich am Eingang seiner Geschichte von der Ehe-
schließung seiner Eltern klar, worauf er hinaus will: „Mein Gott, wie geht es uns in
der heutigen Zeit eigentlich gut gegenüber wie es unseren Vorfahren oder unseren
Eltern ergangen ist.“ Diese Feststellung streicht klar den Wandel als Erzählmotiv
heraus, die Heirat der Eltern wählt IJ quasi willkürlich als Beispiel aus, bestätigt
allerdings, was die drei Erzählerinnen vor ihm bereits beschreiben: Einer jungen
ledigen Mutter einerseits bleibt zur Absicherung nur die Heirat, ein Bauer heira-
tet die Dienstmagd andererseits, um eine starke Arbeitskraft an die Wirtschaft zu
binden. Liebe und Leidenschaft sind auch hier nicht Bestandteil der Erzählungen
über Eheschließungen.
Erzählungen über Scheidungen stellen bei den befragten ZeitzeugInnen eine abso-
lute Ausnahme dar, kommen in Einzelfällen aber doch zur Sprache. Als klarer
Abschluss einer vormaligen Liebesbeziehung soll daher am Ende dieses Kapitels
der Erzählstoff der „gescheiterten Ehe“ kurz angesprochen werden. Eine Scheidung
bedeutete vor allem für die Frau mitunter große wirtschaftliche Schwierigkeiten488
– ganz abgesehen von der Reaktion der Menschen im sozialen Umfeld, die einen
solch klaren Schnitt in einer Beziehung nicht gewohnt waren und manchmal auch
nicht dulden wollten. Die 1916 geborene UF erzählt ganz frei und leicht ironisch
die Geschichte ihrer Ehe vom Anfang bis zum Ende:
UF: Im Januar 39. Und wir zwei, also, meine Kollegin und ich, wir hatten
uns vorgenommen, ganz solide zu sein. Nie zum Tanzen zu gehen, nur vom
Sport und der guten Luft zu leben. Und da saßen zwei Wiener Ingenieure am
Tisch und sagten: „Ja, jetzt können Sie doch noch nicht schlafen gehen, meine
Damen! Heute ist die erste Fastnachtsitzung, und die ist immer ganz lustig,
und die ist auch mit Tanz verbunden. Das dürfen Sie sich nicht entgehen las-
sen!“ – Also haben wir unsere guten Vorsätze über den Haufen geworfen und
sind tanzen gegangen. Und da habe ich meinen Mann kennen gelernt.
I: Aha?
UF: Ja. Der ist dann, der hatte noch gewettet mit dem Motorrad, auf das
Motorrad hatte der sich eine derbe Schnur gebunden, es war ja Winter, Januar,
Winter. Statt den Schneeketten hat der einen derbe Schnur gehabt, und so ist
488 Vgl. Lanzinger, Margareth: Aushandeln von Ehe – Heiratsverträge in europäischen Rechtsräu-
men. Einleitung. In: Lanzinger, Margareth u.a. (Hg.): Aushandeln von Ehe – Heiratsverträge der
Neuzeit im europäischen Vergleich. (= L’Homme Archiv. Quellen zur feministischen Geschichts-
wissenschaft 3) Wien 2010. S. 11–25.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439