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ich das alles erfahren habe, ist mir das sofort eingefallen: Da kann mir nur
die Mutter Gottes geholfen haben! Nachher, bei der Visite, […] der Chefarzt,
sagt kein Wort. Nachher bricht er das Schweigen und sagt: „Herr AC, ich
kann es noch nicht glauben, aber bei Ihnen ist ein Wunder geschehen.“ Hat
ein Chefarzt gesagt! Und das zweite Wunder ist das: Ich habe im Kopf keine
Lähmung, überhaupt nichts. Das ist das zweite Wunder, weil du beim Herz-
stillstand in den meisten Fällen nachher etwas hast. Aber ich, nach kurzer
Zeit bin ich schon wieder nach Teneriffa geflogen, so gut ist es wieder gewesen.
I: Kannst du dich da an etwas erinnern, während dieser Zeit?
AC: Nein, ich weiß nur, ich war in einem wunderbar hellen Raum, bin ich
gewesen. Das weiß ich. Aber sonst kann ich nichts sagen.
I: Aber es ist etwas gewesen?
AC: Es ist etwas gewesen. Und seit da sage ich: Ich fürchte mich nicht mehr
vor dem Tod.
Wenn überhaupt, so gehen die meisten ErzählerInnen auf das Thema des eigenen
Todes nur kurz ein, wie dies auch bei RI der Fall ist. Er weist durch die Bemerkung
auf die Bestellung seines Grabplatzes darauf hin, dass er sich seines bevorstehen-
den Todes bewusst ist und diesem selbstbestimmt entgegengeht.
In den meisten Biografien wird über den eigenen Tod wenig überraschend
kaum gesprochen, es sei denn vom Umgang mit dem eigenen Tod und den per-
sönlichen Vorbereitungen für diesen Moment. Eine Ausnahme stellen Menschen
dar, die bereits Bekanntschaft mit dem Sterben oder einer ähnlichen Erfahrung
gemacht haben: AC kann als einziger der Befragten von einer Nahtoderfah-
rung berichten. Dass er diese Geschichte bereits sehr oft erzählt hat, ist an den
geschliffenen Formulierungen, der Flüssigkeit der Erzählung und der Wortwahl
gut erkennbar. Für AC, der sehr religiös ist, ist der werthaltige Endpunkt seiner
Erzählung – ähnlich wie BBs „Guter Draht zur Mutter Gottes“ – die Tatsache, dass
ihm die Heilige Maria in Notsituationen verlässlich zur Seite stehe und ihm bereits
zweimal das Leben gerettet hätte. Diese Interpretation (und nicht zuletzt seine
spannende und unterhaltsame Art zu erzählen) bescherte ihm immerhin einen
Auftritt in einer österreichischen Fernseh-Talkshow.
Die Geschichten über Tod und Verlust stellen in den lebensgeschichtlichen Erzäh-
lungen zumeist eine Gratwanderung dar, auf deren einer Seite erzählerische Nüch-
ternheit und Distanz der ErzählerInnen stehen, die befürchten, im Interview
Fassung zu verlieren, oder dem Gegenüber mehr Einblicke zu geben als sie selbst
wünschen. Auf der anderen Seite steht allerdings ein gewisser Unterhaltungs-
wert, der sich aus Dramatik und spektakulären Details nährt. Ob die eine oder die
andere Seite auf dieser Gratwanderung in den jeweiligen Erzählungen dominiert,
hängt nicht zuletzt von der persönlichen und emotionalen Nähe zur verstorbenen
Person, sowie von der Länge der zurückliegenden Zeitspanne ab.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439