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Warum Uhrzeit, Weihnachtsgeschenke oder die Dauer des Schneefalls in Tagen so
genau erinnert werden, kann einerseits dadurch begründet sein, dass Menschen
diese Ereignisse im Laufe ihres Lebens viele Male erzählen und dadurch Details
nicht vergessen (bzw. diese auch konfabuliert und dann vermeintlich „erinnert“)
werden. Andererseits speichert das Gedächtnis angesichts schockierender oder
gar traumatischer Erlebnisse aus dem Zusammenhang gerissene Fakten ab, und
diese werden mit dem Erlebten verknüpft. Die Befragten tauchen im Rahmen
ihrer Erzählungen in ihre Erinnerungen und Emotionen ein, und häufig tauchen
unwichtig erscheinende Details des Erlebnisses in intensiven Farben wieder vor
dem geistigen Auge auf. Überrascht über das eigene Erinnerungsvermögen und
die Informationen, die plötzlich wieder erinnert werden, werden diese Details
auch in die Erzählungen eingebaut.501
Abb. 64: Suchende HelferInnen am Lawinenkegel auf Montjola am 12. Jänner 1954
(Foto Richard Beitl/Sammlung Familie Beitl/Montafon Archiv)
Besonders spannend und mitreißend, und daher auch beliebt in Zusammenhang
mit Erzählungen über Naturkatastrophen, sind Schilderungen der unfassbaren
Ausmaße des Ereignisses. Die Tatsache, dass die AugenzeugInnen diese plötzlich
auf den Kopf gestellte Welt miterlebten, sowie die Vorstellung, dass die bislang ver-
traute Umgebung über Nacht komplett verändert und, noch schlimmer, verwüs-
tet ist, machen diese Erzählungen besonders lebendig. Die älteste im Rahmen des
Projektes befragte Zeitzeugin, die 1904 geborene EV, schilderte als letzte lebende
Augenzeugin ihre Erinnerungen an das Hochwasser 1910 wie folgt:
501 Röhrich, Lutz: Orale Traditionen als historische Quelle. Einige Gedanken zur deutschsprachigen
mündlichen Volkserzählung. In: Ungern-Sternberg, Jürgen und Hansjörg Reinau (Hg.): Vergan-
genheit in mündlicher Überlieferung. Stuttgart 1988. S. 79–99. Hier S. 90.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439