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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert - Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
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413 ßen Mänteln mit Krawatten. Von meinen 43 Dienstjahren habe ich also 42 Jahre nur Krawatten getragen. Weiße Hemden, Krawatten und weiße Arbeits- mäntel. Und da hat unser Chef sehr geachtet drauf, wir durften zum Beispiel nie unrasiert ins Büro kommen. Das war verpönt. Und wenn ich heute die jungen Ingenieure anschau, wenn ich so hineinkomm gelegentlich, wie die in den Ruderleibchen drin sitzen mit [lacht] kurzen Hosen [lacht] ist es mir fast unverständlich. Die fünf ZeitzeugInnen sprechen in den obigen Ausschnitten verschiedenste Themenbereiche an, ihrer Kritik liegt allerdings stets die Gegenüberstellung des „Heute“ mit den Verhältnissen ihrer Jugendzeit zugrunde. XX beispielsweise the- matisiert mit „Heute sagt man oft, was soll man denn da noch essen? Ist ja alles ver- pfuscht. Alles ist vergiftet“ die Qualität der Nahrungsmittel, die sie als fragwürdig beurteilt. Der ihrer Darstellung immanente Topos könnte etwa mit „Früher war die Welt noch in Ordnung“ beschrieben werden. FU stellt in Zusammenhang mit dem Äpfel Stehlen als einer der Höhepunkte seiner Kindheitserinnerungen fest: „Heutzutags erleben die Leute nichts mehr“, was den Topos „Früher war es lustiger als heute“ impliziert. DW übt heftige Kritik an der heutigen Gesellschaft und ihrem Umgang mit Kindern, wenn er betont, dass seine Generation noch wesentlich strenger erzo- gen wurde: „Einen Haufen Kinder. Verwöhnt sind die nicht worden, wie heute. Aber darum ist auch vielleicht was anderes daraus geworden“. Der Erzähler erklärt Zufriedenheit als Folge einer Erziehung zur Disziplin und schließt mit dem Topos: „Früher war man zufriedener als heute.“ KPs Analyse zielt in dieselbe Richtung, wenn er meint: „Heute freut man sich ja nicht mehr. Heute kauft man einfach Sachen.“ Der Erzähler spricht die seines Erachtens fehlende Wertschätzung gegenüber Waren im Allgemeinen an und übt Gesellschaftskritik, wenn er Kinderbetreuung und arbeitende Frauen als Fehlent- wicklung des modernen gesellschaftlichen Systems bezeichnet. HH schließlich gibt ein typisches Beispiel für Jugendpessimismus, wenn er feststellt: „Und wenn ich heute die jungen Ingenieure anschau, […] wie die in den Ruderleibchen drin sitzen, mit kurzen Hosen, ist es mir fast unverständlich.“ Für HH stellt die modische Weiterentwicklung im Kern einen Verfall der Werte dar. Erzählstoffe, die als Träger für Jugend- und Kulturpessimismus dienen, werden – wie dies sehr häufig beim Thema „Wandel“ der Fall ist – einem Vergleich unterzo- gen. Vergleiche stellen, das wurde mehrfach deutlich, eine sehr verbreitete Denk- und Darstellungsmethode, bzw. sogar ein kulturell vorgegebenes Regelsystem, dar. Zumeist handelt es sich um einen Vergleich des diffusen „Früher“ mit dem „Heute“. Der Vergleich ist ein Schema des Erinnerns und Erzählens, das auf einem Denken in Dualismen beruht.519 519 Lehmann, Albrecht: Der Schicksalsvergleich. Eine Gattung des Erzählens und eine Methode des Erinnerns. In: Bönisch-Brednich u.a. (Hg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen Volkskundekongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991. S. 197–207. Hier S. 197ff.
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Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Titel
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Untertitel
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
Verlag
StudienVerlag
Ort
Innsbruck
Datum
2013
Sprache
deutsch
Lizenz
CC BY-NC-ND 3.0
Abmessungen
15.8 x 23.4 cm
Seiten
464
Schlagwörter
Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
Kategorie
Geographie, Land und Leute

Inhaltsverzeichnis

  1. Vorwort 11
  2. Einführung 13
  3. 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
    1. 1.1. Potenzial und Grenzen des biografischen Interviews 18
    2. 1.2. Entstehung und Funktion von Erinnerungen 22
      1. 1.2.1. Wahrnehmung 22
      2. 1.2.2. Kollektives, kulturelles, kommunikatives, autobiografischesGedächtnis 25
      3. 1.2.3. Erinnerung 29
    3. 1.3. Spezifika von Erzählungen im Rahmen lebensgeschichtlicher Interviews 31
      1. 1.3.1. Vom Erzählen zur Erzählung 32
      2. 1.3.2. Spezifika von Erzählungen im narrativen Interview 34
      3. 1.3.3. Spezifika lebensgeschichtlicher Erzählungen 35
    4. 1.4. Potenzial der Erinnerungserzählungen 42
  4. 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
    1. 2.1. Zur Entstehung des Quellenmaterials 47
      1. 2.1.1. Der Idealtyp des narrativen Interviews und die Praxis 48
      2. 2.1.2. Die Arbeit mit dem erhobenen Quellenmaterial 50
      3. 2.1.3. Statistischer Überblick über die biografischen Interviews 52
    2. 2.2. Erinnerungspraxis und Erzähltradition: Definition und Forschungsziel 55
      1. 2.2.1. Zur Methodik der Auswertung und Analyse 58
      2. 2.2.2. Zur Darstellung der Ergebnisse 60
  5. 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
    1. 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
    2. 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
    3. 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
    4. 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
      1. 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
      2. 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
      3. 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
      4. 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
      5. 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
      6. 3.4.6. Modernisierung 112
      7. 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
      8. 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
      9. 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
      10. 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
      11. 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
      12. 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
      13. 3.4.13. Autoritäten 183
      14. 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
      15. 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
      16. 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
      17. 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
      18. 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
      19. 3.4.19. Repressives NS-System 230
      20. 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
      21. 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
      22. 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
      23. 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
      24. 3.4.24. Gefangenschaft 263
      25. 3.4.25. Heimkehr 268
      26. 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
      27. 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
      28. 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
      29. 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
      30. 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
      31. 3.4.31. Kriegsende 301
      32. 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
      33. 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
      34. 3.4.34. Entnazifizierung 324
      35. 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
      36. 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
      37. 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
      38. 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
      39. 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
      40. 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
      41. 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
      42. 3.4.42. Liebe und Ehe 370
      43. 3.4.43. Geburt der Kinder 381
      44. 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
      45. 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
      46. 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
      47. 3.4.47. Naturkatastrophen 400
      48. 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
      49. 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
      50. 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
  6. 4. Zusammenfassung und Synthese 421
    1. 4.1. Erzählstoffe und Leitlinien 422
      1. 4.1.1. Die 50 Erzählstoffe einer Durchschnittsbiografie 424
      2. 4.1.2. Ein Leben geprägt von Wandel 427
      3. 4.1.3. Arbeit als Lebensthema 428
      4. 4.1.4. Männer- und Frauenerzählungen 429
      5. 4.1.5. Geschichtliches und Lebensgeschichtliches 430
    2. 4.2. Erzählstrukturen und -strategien: Rechtfertigung, Idyllisierung, Vergleich 432
  7. 5. Verzeichnisse und Nachweise 439
    1. 5.1. Liste der anonymisierten ZeitzeugInnen 439
    2. 5.2. Literaturverzeichnis 440
    3. 5.3. Internetquellen 454
    4. 5.4. Abbildungsverzeichnis 454
    5. 5.5. Ortsregister 458
    6. 5.6. Personenregister 461
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