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ßen Mänteln mit Krawatten. Von meinen 43 Dienstjahren habe ich also 42
Jahre nur Krawatten getragen. Weiße Hemden, Krawatten und weiße Arbeits-
mäntel. Und da hat unser Chef sehr geachtet drauf, wir durften zum Beispiel
nie unrasiert ins Büro kommen. Das war verpönt. Und wenn ich heute die
jungen Ingenieure anschau, wenn ich so hineinkomm gelegentlich, wie die in
den Ruderleibchen drin sitzen mit [lacht] kurzen Hosen [lacht] ist es mir fast
unverständlich.
Die fünf ZeitzeugInnen sprechen in den obigen Ausschnitten verschiedenste
Themenbereiche an, ihrer Kritik liegt allerdings stets die Gegenüberstellung des
„Heute“ mit den Verhältnissen ihrer Jugendzeit zugrunde. XX beispielsweise the-
matisiert mit „Heute sagt man oft, was soll man denn da noch essen? Ist ja alles ver-
pfuscht. Alles ist vergiftet“ die Qualität der Nahrungsmittel, die sie als fragwürdig
beurteilt. Der ihrer Darstellung immanente Topos könnte etwa mit „Früher war
die Welt noch in Ordnung“ beschrieben werden.
FU stellt in Zusammenhang mit dem Äpfel Stehlen als einer der Höhepunkte
seiner Kindheitserinnerungen fest: „Heutzutags erleben die Leute nichts mehr“, was
den Topos „Früher war es lustiger als heute“ impliziert.
DW übt heftige Kritik an der heutigen Gesellschaft und ihrem Umgang mit
Kindern, wenn er betont, dass seine Generation noch wesentlich strenger erzo-
gen wurde: „Einen Haufen Kinder. Verwöhnt sind die nicht worden, wie heute.
Aber darum ist auch vielleicht was anderes daraus geworden“. Der Erzähler erklärt
Zufriedenheit als Folge einer Erziehung zur Disziplin und schließt mit dem Topos:
„Früher war man zufriedener als heute.“
KPs Analyse zielt in dieselbe Richtung, wenn er meint: „Heute freut man sich
ja nicht mehr. Heute kauft man einfach Sachen.“ Der Erzähler spricht die seines
Erachtens fehlende Wertschätzung gegenüber Waren im Allgemeinen an und übt
Gesellschaftskritik, wenn er Kinderbetreuung und arbeitende Frauen als Fehlent-
wicklung des modernen gesellschaftlichen Systems bezeichnet.
HH schließlich gibt ein typisches Beispiel für Jugendpessimismus, wenn er
feststellt: „Und wenn ich heute die jungen Ingenieure anschau, […] wie die in den
Ruderleibchen drin sitzen, mit kurzen Hosen, ist es mir fast unverständlich.“ Für HH
stellt die modische Weiterentwicklung im Kern einen Verfall der Werte dar.
Erzählstoffe, die als Träger für Jugend- und Kulturpessimismus dienen, werden –
wie dies sehr häufig beim Thema „Wandel“ der Fall ist – einem Vergleich unterzo-
gen. Vergleiche stellen, das wurde mehrfach deutlich, eine sehr verbreitete Denk-
und Darstellungsmethode, bzw. sogar ein kulturell vorgegebenes Regelsystem,
dar. Zumeist handelt es sich um einen Vergleich des diffusen „Früher“ mit dem
„Heute“. Der Vergleich ist ein Schema des Erinnerns und Erzählens, das auf einem
Denken in Dualismen beruht.519
519 Lehmann, Albrecht: Der Schicksalsvergleich. Eine Gattung des Erzählens und eine Methode des
Erinnerns. In: Bönisch-Brednich u.a. (Hg.): Erinnern und Vergessen. Vorträge des 27. Deutschen
Volkskundekongresses Göttingen 1989. Göttingen 1991. S. 197–207. Hier S. 197ff.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Title
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Subtitle
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Publisher
- StudienVerlag
- Location
- Innsbruck
- Date
- 2013
- Language
- German
- License
- CC BY-NC-ND 3.0
- Size
- 15.8 x 23.4 cm
- Pages
- 464
- Keywords
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Category
- Geographie, Land und Leute
Table of contents
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439