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lerischen Inhalte bezugnehmend auf diese Jahre auf nur 13 Erzählstoffe zusam-
mengefasst werden konnten8, wird in den lebensgeschichtlichen Erzählungen die
weitaus meiste Zeit für die Ausgestaltung dieser 13 Themenbereiche verwendet.
Eine Ausnahme stellen die beiden Erzählstoffe „Sagenhaftes von den AhnInnen“
und „AhnInnen als GastarbeiterInnen“ dar: Hier ist für die Behandlung als eigener
Erzählstoff nicht der Umfang der Erzählungen, sondern der große Stellenwert der
VorfahrInnen für die eigene Biografie Kriterium. Alle anderen Erzählstoffe, allen
voran die „Traditionelle Landwirtschaft“ und der „Zuerwerb zur Landwirtschaft“
sowie der „Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft“ und die „Moder-
nisierung“ nehmen überdurchschnittlich viel Raum in den biografischen Erzäh-
lungen ein. Auch die Erzählungen über „Armut und einfache Verhältnisse“, die
„harte, arbeitsame Kindheit“ oder die „Lausbuben- und Schulgeschichten“ werden
mit überdurchschnittlicher Freude, Emotion und Ausdauer wiedergegeben. Diese
13 Erzählstoffe umfassen angesichts der geringen Zeitspanne, auf die sie sich bezie-
hen, mengenmäßig einen übermäßig großen Anteil an den lebensgeschichtlichen
Erzählungen. Sie verdeutlichen, dass die Anzahl der Erzählstoffe in Bezug auf den
Lebensabschnitt nicht unbedingt der Dichte und dem Umfang der Erzählungen
entsprechen, und zeigen deutlich die sogenannten „Erinnerungsdichten“ auf.
Der zweite Abschnitt der lebensgeschichtlichen Erzählungen umfasst die Jahre
1938 bis 1950 und thematisiert den Nationalsozialismus, den Zweiten Weltkrieg
und die Nachkriegsjahre unter der französischen „Besatzung“. Auch hier handelt
es sich um einen Abschnitt, der nur wenige Jahre umfasst, umfangmäßig allerdings
einen zentralen Bereich der lebensgeschichtlichen Darstellungen repräsentiert.
Die mit 21 Erzählstoffen9 überraschend hohe Vielfalt an erzählerischen Themen
verdeutlicht die überreichlichen Aspekte, die in den Augen der ErzählerInnen
diesen zweiten Lebensabschnitt prägten. In ihrer Qualität unterscheiden sich die
Erzählungen allerdings zum Teil stark von jenen, die die Zwischenkriegszeit und
die Kindheit betreffen. Erzählstoffe wie „Die 1930er Jahre und die ‚Tausend-Mark-
Sperre‘“, „Der ‚Anschluss‘ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen“, „Im
(Un-)Wissen um die NS-Verbrechen“ sowie die Kriegserzählungen in den Kapiteln
„Kriegsbeginn und die ‚verlorenen Jahre‘“, „Von den Schrecken des Krieges“ oder
„Gefangenschaft“ werden im Vergleich zu den Darstellungen des ersten Lebens-
abschnittes eher verhalten und wenig emotional und vielfach vorsichtig oder gar
ängstlich wiedergegeben. Die ErzählerInnen bemühen sich häufig um eine detail-
getreue Darstellung gezielt ausgewählter historischer Inhalte, geben aber wenig
Einblick in ihr emotionales Innenleben während dieser Jahre oder auch während
des Erzählens.
Ein anderer Teil der Erzählungen zum Zweiten Weltkrieg und den Nachkriegs-
jahren präsentiert sich allerdings weniger befangen: In manchen Darstellungen
erscheinen Krieg oder Besatzung als hervorragender Erzählanlass für historisch
einmalige und zumeist sehr unterhaltsame Anekdoten. Bei den Erzählstoffen
8 Vgl. Kapitel 3.4.1–3.4.13.
9 Vgl. Kapitel 3.4.14–3.4.34.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439