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lungen wesentlich präsenter sind und detaillierter erzählt werden, als dies für das
spätere Lebensalter (Erwachsenenalter, Pensionsalter) der Fall ist. Konkret bedeu-
tet das, dass Geschichten aus Kindheit und Jugend bei Weitem überwiegen. Die
ZeitzeugInnen berichten einerseits vom Alltagsleben, wie etwa den Tätigkeiten im
Jahreskreis, von Festen und Feiern, vom Familienleben oder von der Schulzeit.
Andererseits werden historische Ereignisse, rund um die Zeit des Nationalsozia-
lismus und den Zweiten Weltkrieg, ausführlich thematisiert. Ab den 1970er Jah-
ren nimmt die Dichte der Erzählstoffe ab. Die Lebensgeschichte ist in der zweiten
Hälfte bzw. im dritten Lebensdrittel geprägt von Erzählstoffen mit Bezug auf Ver-
änderungen im Beruf, Verluste von Familienmitgliedern oder Krankheit.
Persönliche Erinnerungen werden in zwei Erinnerungssystemen verarbeitet. Auf
der einen Seite wirkt die Geschichte – im Sinne der wirtschaftlichen, politischen
Historie allgemein bekannter Ereignisse – als Rahmen für das eigene Leben, in
den sich die ErzählerInnen einordnen. Auf der anderen Seite bildet die individu-
elle Lebensgeschichte das unumstößliche Gerüst der persönlichen Meilensteine.
In lebensgeschichtlichen Erzählungen werden diese beiden Erinnerungssysteme,
die Geschichte und die Lebensgeschichte, ständig miteinander verrechnet. Die
Einordnung der Lebensgeschichte in die historische Geschichte bringt häufig das
Bedürfnis mit sich, Zusammenhänge zu erklären.16
Daraus folgt, dass sich die beiden Erinnerungssysteme in ihrer Dominanz
abwechseln. Für die Zeit der Kinderjahre dominieren in den vorliegenden bio-
grafischen Erzählungen beispielsweise zunächst noch familien- und lebensge-
schichtliche Erzählstoffe. Sehr bald allerdings steht in den Darstellungen das
Geschichtliche im Vordergrund des Lebensgeschichtlichen. Bis in die 1950er Jahre
hinein setzen die ErzählerInnen ihre Schwerpunkte auf die Darstellung histori-
scher Ereignisse („Anschluss“ an das Deutsche Reich, Kriegsbeginn oder -ende
etc.) oder historisch geprägte Verhältnisse (Armut und Arbeitslosigkeit in den
1930er Jahren, Leben unter den französischen Besatzern etc.). Ab den 1950er Jah-
ren dominiert schließlich wieder die individuelle Dimension von Entscheidungen
und Erfahrungen (Stationen im Lebensprozess, wirtschaftliche und technische
Entwicklungen, Arbeitsprozesse, Entwicklung des Tales).17 Die Dominanz des
Geschichtlichen über das Lebensgeschichtliche in Bezug auf die politischen Unru-
hezeiten ist mitunter durch die bis heute große öffentliche Präsenz der Ereignisse
in den 1930er, 40er und 50er Jahren zu erklären, die nicht zuletzt auch auf einen
gesellschaftlichen Kanon der Geschichtsverarbeitung zurückzuführen ist. Die Dar-
stellungen des Zusammenhangs von Geschichte und Lebensgeschichte machen an
vielen Stellen der lebensgeschichtlichen Erzählungen Strategien des Erklärens not-
wendig, auf die im nachfolgenden Kapitel noch genauer eingegangen werden soll.
Abschließend soll in Bezug auf die (Lebens-)Geschichte, aber auch rekurrierend
auf das Thema Wandel, kurz auf das Zeitenverständnis eingegangen werden, das
16 Löffler: Zurechtgerückt. S. 95f.
17 Lehmann: Erzählstruktur und Lebenslauf. S. 174f.
Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Titel
- Erzählen vom Leben im 20. Jahrhundert
- Untertitel
- Erinnerungspraxis und Erzähltraditionen in lebensgeschichtlichen Interviews am Beispiel der Region Montafon/Vorarlberg
- Verlag
- StudienVerlag
- Ort
- Innsbruck
- Datum
- 2013
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC-ND 3.0
- Abmessungen
- 15.8 x 23.4 cm
- Seiten
- 464
- Schlagwörter
- Oral history, biographical narratives, narrative traditions, lebensgeschichtliches Erzählen, Erzähltraditionen
- Kategorie
- Geographie, Land und Leute
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Einführung 13
- 1. Kritik des lebensgeschichtlichen Erzählens 17
- 2. Quellenmaterial, Forschungsziel und Auswertung 47
- 3. Erinnerungspraxis und Traditionen lebensgeschichtlichen Erzählens 63
- 3.1. Einstiege in die lebensgeschichtlichen Erzählungen 63
- 3.2. Leitlinien des lebensgeschichtlichen Erzählens 67
- 3.3. Topoi in lebensgeschichtlichen Erzählungen 71
- 3.4. Lebensgeschichtliche Erzählstoffe und Mustererzählungen 73
- 3.4.1. Sagenhaftes von den AhnInnen 74
- 3.4.2. AhnInnen als GastarbeiterInnen 78
- 3.4.3. Traditionelle Landwirtschaft 84
- 3.4.4. Zuerwerb zur Landwirtschaft 98
- 3.4.5. Niedergang der traditionellen Berglandwirtschaft 104
- 3.4.6. Modernisierung 112
- 3.4.7. Alltag im traditionellen Gefüge 127
- 3.4.8. Bräuche und Gewohnheiten 136
- 3.4.9. Armut und einfache Verhältnisse 152
- 3.4.10. „Harte, arbeitsame Kindheit“ 162
- 3.4.11. Idyllisierung der einfachen Verhältnisse 173
- 3.4.12. Lausbuben- und Schulgeschichten 175
- 3.4.13. Autoritäten 183
- 3.4.14. Die 1930er Jahre und die „Tausend-Mark-Sperre“ 190
- 3.4.15. Der „Anschluss“ und seine Bedeutung für die MontafonerInnen 195
- 3.4.16. NS-Propaganda in der Schule 210
- 3.4.17. In der Hitlerjugend 213
- 3.4.18. Im (Un-)Wissen um die NS-Verbrechen 221
- 3.4.19. Repressives NS-System 230
- 3.4.20. Auflehnung und Widerstand 235
- 3.4.21. Schwarzhandel, Schwarzschlachten, Schwarzhören 237
- 3.4.22. Kriegsbeginn und die „verlorenen Jahre“ 243
- 3.4.23. Von den Schrecken des Krieges 252
- 3.4.24. Gefangenschaft 263
- 3.4.25. Heimkehr 268
- 3.4.26. Krieg in Vorarlberg 273
- 3.4.27. Flüchtlingsgeschichten 278
- 3.4.28. Von Kriegsgefangenen und ZwangsarbeiterInnen 287
- 3.4.29. Von Deserteueren und „Waldhockern“ 294
- 3.4.30. Die drohende Staumauersprengung im Vermunt 297
- 3.4.31. Kriegsende 301
- 3.4.32. „Heimatverteidiger“ und Widerstandsbewegung bei Kriegsende 304
- 3.4.33. Die französische „Besatzung“ und die „Marokkaner“ 309
- 3.4.34. Entnazifizierung 324
- 3.4.35. Armut und einfache Verhältnisse in der Nachkriegszeit 329
- 3.4.36. Schmuggeln und Schmugglergeschichten 333
- 3.4.37. Wildern und Wilderergeschichten 337
- 3.4.38. Beruflicher Werdegang und Ausbildung 340
- 3.4.39. Wirtschaftlicher Aufschwung in der Nachkriegszeit 349
- 3.4.40. Neu-Anfang mit dem Tourismus 353
- 3.4.41. Urlaube mit der Familie 366
- 3.4.42. Liebe und Ehe 370
- 3.4.43. Geburt der Kinder 381
- 3.4.44. Unfälle und Krankheiten 385
- 3.4.45. Umgang mit dem Altern 393
- 3.4.46. Umgang mit Tod und Verlust 395
- 3.4.47. Naturkatastrophen 400
- 3.4.48. Mystisches und rätselhafte Begebenheiten 406
- 3.4.49. Kultur- und Jugendpessimismus 411
- 3.4.50. Geschlechterrollen und -bilder 414
- 4. Zusammenfassung und Synthese 421
- 5. Verzeichnisse und Nachweise 439