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der hier gebotenen Kürze muss die Antwort – vergröbernd20 – in ersterem
Fall „nein“, in letzterem „ja“ lauten.
Kluge stellt unter Hinweis auf die bis in die Monarchie zurückreichenden
Probleme des Parlamentarismus21 insbesondere die These in Abrede, dass
Dollfuß die Staatskrise vom März 1933 „aus antidemokratischer Vorsätz-
lichkeit“ herbeigeführt habe.22 Vielmehr glaubt er in dessen Regierungszeit
„situationsbedingte Abschnitte“ erkennen zu müssen23; an eine definitive Ab-
kehr von der Demokratie habe Dollfuß nicht gedacht.24 Weit davon entfernt,
eine Apologie des Kanzlers verfassen zu wollen, stellt er an ihm eine unre-
flektierte Verbundenheit mit dem vormodernen Staatsideal fest und hält es
für „zweifelhaft, ob Dollfuß das Talent zur kritischen Reflexion seines Kur-
ses besaß, um die Widersprüchlichkeiten seiner Lage zu erkennen“25, bzw.
ortet in seiner nach außen demonstrierten „Vernunftpolitik“ auch unlogische
Elemente.26 Und es entgeht ihm auch nicht die wachsende Distanz zwischen
Ständegesellschaft und Ständestaat.27
Tálos hingegen unterstellt Dollfuß sehr wohl den Willen zu einer dauer-
haften Veränderung des politischen Systems28 und betont seine Nähe sowohl
zum deutschen als auch zum italienischen Faschismus.29 Ein Schwerpunkt
seines Bemühens liegt im Aufzeigen des repressiven Charakters des autoritä-
ren Staates und der Mängel im sozialen Bereich.30 In bewusster Abgrenzung
von vorsichtig abwägenden Politologen wie Karl Dietrich Bracher oder Juan
Linz ortet er am politischen System in Österreich 1933–1938 nicht nur auto-
ritäre, sondern totalitäre Züge. Daher lehnt er auch den von Helmut Wohnout
geprägten Begriff „Regierungsdiktatur“ als unzureichend ab.31 Die Absicht,
Widerstand gegen den Nationalsozialismus leisten zu wollen, spricht er dem
20 Eine auch die Feinheiten berücksichtigende Darstellung der Problematik des Begriffs
„Austrofaschismus“ gelingt hanisch, „Christlicher Ständestaat“, 177.
21 KluGe, Ständestaat, 15–17.
22 KluGe, Ständestaat, 51 f.; KluGe, Bauern, 427.
23 KluGe, Ständestaat, 59.
24 KluGe, Bauern, 431; so auch E. nolte, Die Krise, 306; F. L. Carsten stellt diesbezüglich
einen allmählichen Gesinnungswandel fest; carsten, Faschismus, 212 f.
25 KluGe, Ständestaat, 61 f.; vgl. auch carsten, Faschismus, 211.
26 KluGe, Bauern, 428.
27 KluGe, Ständestaat, 74.
28 tálos/neuGebauer, Austrofaschismus 1; tálos, Herrschaftssystem (2005), 394.
29 tálos, Herrschaftssystem (2005), 400 f.
30 tálos, Herrschaftssystem (2005), 404–411; diesbezüglich sehr griffig auch die jüngste Cha-
rakterisierung des Ständestaats als „Schulbeispiel eines Unrechtsstaats“; wiederin, Die
Rechtsstaatskonzeption, 90.
31 tálos, Herrschaftssystem (2005), 413–416; Wohnout präzisierte den Begriff später selbst
und sprach von „Kanzlerdiktatur“; wohnout, Anatomie, 964.
1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE22
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580