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System nicht ab, aber als Zweck nennt er die „Aufrechterhaltung einer Dikta-
tur, die in Konkurrenz zum Nationalsozialismus stand“.32 Ausdrücklich stellt
er in Abrede, dass die Entwicklung in Österreich die Reaktion auf die außen-
politische Situation war, anerkennt diese aber als fördernden Faktor.33
Im Schlepptau von Tálos bewegen sich Wenninger/Dreidemy, die das Be-
kenntnis zum Terminus „Austrofaschismus“ programmatisch an den Beginn
des von ihnen konzipierten Sammelbandes stellen und wie selbstverständlich
auch mit dem Begriff „Diktatur“ operieren.34 Dem entspricht die ausdrückli-
che Distanzierung vom Terminus „Ständestaat“ durch einen der Beiträger,
der die Selbstbezeichnung des Systems nicht in die Sprache der Wissenschaft
übernehmen möchte.35 Noch schärfer im Ton sind Reiter-Zatloukal und ihre
Mitarbeiterinnen.36 Den vorläufigen Höhepunkt an vermeintlich „kritischer“
Reflexion der Thematik markiert Lucile Dreidemys Monographie über den
„Dollfuß-Mythos“, in der sämtliche jemals gegen den Kanzler erhobenen Vor-
würfe kulminieren: der „diktatorische Charakter“ seines Regimes und die
Bewunderung für Mussolinis Italien37, die Widerstände gegen das System
in Exekutive und Heimwehr38, die Fixierung auf den Machterhalt, das Feh-
len eines Sinns für die drängenden Probleme des Landes, ein ambivalentes
Verhältnis zum Deutschtum und zu den Nationalsozialisten; der „Anschluss“
sei das „Resultat des politischen Versagens“.39 Das Argument, dass es ange-
sichts des Drucks von innen und außen keine Alternative gegeben habe, sei
ein „Topos“.40 Autoren, die mit Dollfuß nicht, wie sie, umfassend ins Gericht
gehen, macht Dreidemy „paradox anmutende Milde“ zum Vorwurf41; sie ver-
träten „erstaunlich wohlwollende“ Positionen bzw. übten „Nachsicht“.42 Nicht
nur Gottfried Karl Kindermann43 und Gudula Walterskirchen44 können vor
Dreidemy nicht bestehen, selbst gegen den wahrlich kritischen Ernst Ha-
nisch bleibt sie unbeugsam: Er sei „im Bemühen um einen versöhnlichen Ton
manchmal auch zu fragwürdigen Behauptungen“ gelangt („verstieg sich“).45
32 tálos, Herrschaftssystem (2005), 412.
33 tálos/manoscheK, Zum Konstituierungsprozess, 21 f.
34 wenninGer/dreidemy, Das Dollfuß/Schuschnigg-Regime, 7.
35 senft, Neues 243; vgl. auch tálos, Deutungen, passim.
36 ZatlouKal/rothländer/schölnberGer, Einleitung.
37 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 15 f. und 57.
38 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 35–43.
39 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 177.
40 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 229.
41 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 219.
42 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 221.
43 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 272–276.
44 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 281–285.
45 dreidemy, Der Dollfuß-Mythos, 278.
1.1 DIE GELTENDE MEISTERERZÄHLUNG – UND WAS SIE OFFEN LÄSST 23
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580