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ritäre Züge an den Tag gelegt habe, aber kein Faschist gewesen sei.92 Er
spricht ihm auch nicht den Willen ab, dem Druck aus Deutschland entgegen-
zutreten, und glaubt, dass er 1936 bzw. 1938 keine politischen Alternativen
gehabt hätte.93
In seiner Knappheit sehr ausgewogen ist das 2007 von Alois Niederstätter
gezeichnete Bild: Er bezeichnet den „Ständestaat“ (so in der Überschrift, im
Text ohne Anführungszeichen) als „durchaus repressiv“, aber „nicht grund-
sätzlich terroristisch“ und betont dessen konservativen Grundzug und den
Unterschied zum „vollfaschistischen Typ“.94 Die Erklärung findet er darin,
dass es seit der Gründung der Republik nicht gelungen sei, „dem demokra-
tischen System eine breite Vertrauensbasis zu schaffen“.95 Durch die Ak-
zentuierung der bei den Wahlen von 1930 sichtbar gewordenen Nähe von
Sozialdemokratie und Nationalsozialismus96 wird das System zwar nicht de-
mokratiepolitisch rehabilitiert, aber doch verstanden. Dasselbe gilt für die
realen politischen Möglichkeiten Schuschniggs.97
Anders hingegen die Darstellung von Karl Vocelka (52002): Schon die Tat-
sache, dass er „Austrofaschismus und Nationalsozialismus“ in einem Kapi-
tel vereint, macht deutlich, dass er der entscheidend von Tálos geprägten
Meistererzählung folgt. Seine Kernaussage: „Der Austrofaschismus hatte
gesiegt.“98 Und: „Auch der oft gehörte Einwand, das ‚System‘ sei milder ge-
wesen als der Nationalsozialismus, ist ein Argument des Biertisches […].“99
Schließlich: „Dollfuß wurde zu einer Legende stilisiert, die bis heute anhält
und in den Augen der Konservativen seine eigenen Schandtaten überdeck-
te.“100
In diesem Fall soll die wörtliche Zitierung auch sichtbar machen, wie
wichtig für Historiker sprachliche Sorgfalt ist/wäre. Entscheidet sich ein Ge-
lehrter für die Gattung Essay, ist die Sprache gleichsam per definitionem
ein Teil der Botschaft, so beim österreichisch-französischen Germanisten
Felix Kreissler, der 1996 auch auf diese Weise seiner Aversion gegen den
Ständestaat Ausdruck verlieh. Auch er postulierte weitreichende Affinitä-
92 So auch connelly, From Enemy, 104.
93 beller, A Concise History, 227.
94 niederstätter, Geschichte Österreichs, 226 f.
95 niederstätter, Geschichte Österreichs, 223; in der Sprache der Politologen lautet derselbe
Befund so: „Es handelte sich demnach auch im Falle Österreichs um typische Erscheinun-
gen der Anfangsdemokratie“; newman, Zerstörung, 305.
96 niederstätter, Geschichte Österreichs, 224.
97 niederstätter, Geschichte Österreichs, 228.
98 vocelKa, Geschichte Österreichs, 292.
99 vocelKa, Geschichte Österreichs, 293.
100 vocelKa, Geschichte Österreichs, 294.
1.1 DIE GELTENDE MEISTERERZÄHLUNG – UND WAS SIE OFFEN LÄSST 29
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580