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Die Vorbehalte gegen die Folgen der Französischen Revolution führten zu
einer Revision des Gleichheitsbegriffs im Sinn einer ständischen Mediatisie-
rung des Individuums.141 Nach 1789 dienten ständische Konzepte als Aus-
druck konservativen Widerstands gegen Demokratie und Kapitalismus142;
der Konservatismus als politische Bewegung ist als Antwort auf 1789 zu ver-
stehen.143
Mit dem Allgemeinen Landrecht in Preußen im Jahr 1794144 und dem All-
gemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch in Österreich im Jahr 1811145 verlor der
Stand seine Qualität als rechtliche Kategorie.146 Gleichwohl entwarfen beide
Kodifikationen faktisch eine ständische Gesellschaft, in der Staat und Ge-
sellschaft noch ungeschieden zu sein schienen; manche Aspekte ständischen
Denkens wurden darin geradezu zementiert.147 Ziel der egalitären Staats-
bürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts war nur die Gleichheit vor dem Ge-
setz, nicht die politische Gleichheit.148
Der preußische Staatsminister Karl Freiherr vom Stein machte kein Ge-
heimnis daraus, dass er den Ständegedanken für geeignet hielt, eine Erneu-
erung des preußischen Staates zu erwirken. Er setzte ihn nicht nur dem Ge-
danken der Demokratie entgegen, sondern versprach sich von ihm auch die
Vermeidung absolutistischer Tendenzen.149 Artikel XIII der Deutschen Bun-
desakte verankerte das Prinzip der „landständischen Verfassung“ – auch wenn
über deren Umsetzung weder Klarheit noch Einigkeit herrschte.150 In den Ter-
ritorien ist das Weiterleben von Praktiken der altständischen Zeit im Vormärz
nicht zuletzt am hohen Stellenwert von Erbhuldigungen erkennbar.151
Damals traten, freilich ohne vorerst den monarchischen und feudalen
Charakter des Staates anzutasten, an die Stelle „altständischer“ Ideen soge-
nannte „neuständische“, weil Bürger und Bauern eine stärkere Repräsenta-
tion erhielten. Diese neuen Stände verstanden sich als Vermittler zwischen
Staat und Gesellschaft, die in Wirklichkeit keine Einheit mehr bildeten.152
141 mayer-tasch, Korporativismus, 10–16.
142 simonett, Die berufsständische Ordnung, 11.
143 mannheim, Konservatismus, 50 f. und 127 f.; hanisch/urbanitsch, Prägung, 62 und 67.
144 Vgl. KosellecK, Preußen.
145 Vgl. rumPler, Eine Chance, 108–111.
146 GG 6 (1990), 234–236 (Stand/Klasse, R. walther).
147 friedrich, Vom Umbau, 453–455.
148 lanGewiesche, Liberalismus, 29.
149 bohn, Ständestaatskonzepte, 29.
150 mayer-tasch, Korporativismus, 19 f.; maZohl, Die politischen und rechtlichen Vorausset-
zungen, 234 f.
151 maZohl/schneider, Translatio Imperii, 121.
152 brunner, Die Freiheitsrechte, 187 f.; hanisch, Konservatives und revolutionäres Denken,
215. 1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE34
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580