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In manchen Kreisen hatte der Begriff „Stand“ allerdings etwas beinahe
Anrüchiges. In Österreich nahmen 1874 die Deutschliberalen den Vorschlag,
Kaiser Franz Josef solle in Prag von „Geistlichkeit und Adel“ empfangen
werden, zum Anlass für eine grundsätzliche Erklärung in der Presse: „Das
Ständethum ist vor dem Begriff des allgemeinen und gleichen Staatsbür-
gerthums vollständig in unserem Staatsrechte zurückgewichen. Einzig und
allein in den Wahlordnungen für die Landtage und nach diesen auch für den
Reichsrath hat sich etwas erhalten, was an die ständische Adelscorporation
erinnert und von derselben sich herleitet, nämlich das Wahlrecht des [...]
Großgrundbesitzes.“163
Gleichwohl waren „Stand“ bzw. „ständisch/standesgemäß“ während des
gesamten 19. Jahrhunderts – und bis weit ins 20. Jahrhundert – lebendige
Wertbegriffe; gerade im gehobenen Bürgertum164, aber auch bei der Seel-
sorgsgeistlichkeit, die häufig bäuerlichen Kreisen entstammte165, waren sie
von hoher Tragweite. Die Kirche kultivierte ständisches Gedankengut so-
gar aktiv.166 So darf mit Fug und Recht von einer Kontinuität ständischer
Deutungen der Gesellschaft im 19. Jahrhundert gesprochen werden167, von
einer „ständische(n) Atmosphäre“ (A. Kolnai).168 Im 1917 kodifizierten ka-
nonischen Recht bedeutete „Stand“ die ständige Zugehörigkeit zu einem Le-
benskreis, mit der ein bestimmtes Maß an Rechtsfähigkeit verbunden war.
Dies setzte gesellschaftliche Ungleichheit geradezu „altständischen“ Zu-
schnitts voraus, wie in den dreißiger Jahren mit Wohlgefallen zur Kenntnis
genommen wurde.169 Nicht zu vergessen ist schließlich das Wahlrecht, das
in Österreich erst 1907 bzw. 1919 zu einem „gleichen“ bzw. „allgemeinen“
wurde, während zuvor nach Kurien, also – trotz der vornehmlich materi-
ellen Komponente dieses Systems – Einrichtungen einer „ständischen“ Ge-
sellschaft, gewählt worden war.170 Im Österreich der dreißiger Jahre wurde
darin mitunter ein Überrest der Landstände gesehen.171 Nach rezenter wis-
senschaftlicher Auffassung hatte das System aber eher berufsständischen
Charakter.172
163 Zit. nach vocelKa, Gegenkräfte, 122 f.
164 Gall, Von der ständischen, 37.
165 Kustatscher, Haus und Familie, 121.
166 buKoscheGG, Das ständisch-autoritäre Österreich, 70.
167 Gall, Von der ständischen, 24; P. nolte, Ständische Ordnung, 237.
168 Kolnai, Ideologie, 16.
169 hohenlohe, Ständestaat, 5.
170 mayer-tasch, Korporativismus, 21; schambecK, Kammerorganisation, 453.
171 lorenZ, Katholisches Geistesleben, 23; F. schausberGer, 16; senft, Im Vorfeld, 53 f.;
vocelKa, Gegenkräfte, 126.
172 urbanitsch, Gemeindevertretungen, 2280. 1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE36
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580