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Das Herzstück der Arbeit sind die Kapitel 5 und 6. Hier kommen kom-
plexe Kategoriensysteme zur Anwendung: Die Erfassung sozialer Einheiten
erfolgt nicht nach materiellen oder sozialen Kriterien, sondern berücksich-
tigt Verhaltensstandards und Werthaltungen. Bei einem Vorrang der Ers-
teren spricht die soziologische Forschung von Klassen oder Eliten, lässt sich
eine Dominanz der Letzteren feststellen, von Ständen.196 Aber auch beim Eli-
tenbegriff ist die soziologische Definition keineswegs zwingend, man kann
ihn auch, wie Max Scheler, philosophisch begründen.197 Dass dieser Denker
in der Zeit des Übergangs von der ständischen zur bürgerlichen Zeit in der
Relation der Menschen zur Wertordnung eine tiefe Krise feststellte198, ver-
leiht ihm im gegebenen Kontext besonderes Gewicht.
Einer der in der Studie häufig vorkommenden Begriffe ist „Liberalismus“.
In der Sprache der meist konservativen Denker, die darin befragt werden,
bezeichnete er weder Offenheit des Denkens im Dienst von Vernunft und
Menschenwürde199 noch nahm er auf die Entwicklung in Österreich nach
1848 Bezug (Trennung zwischen wirtschaftlichen, politischen und kultu-
rellen Aspekten, Kampf gegen den gesellschaftlichen Einfluss der katholi-
schen Kirche).200 Man verband mit dem Begriff nur den Verzicht auf höhere,
metaphysische Bindungen201, kalten, mechanistischen Rechtspositivismus
und egoistischen Individualismus, der den Nächsten nicht als Mitmenschen,
sondern – im Geist des Manchestertums – als Konkurrenten betrachtet.202
Diese stark negative Konnotation schwingt häufig mit, wenn die Begriffe
„Liberalismus“ bzw. „liberal“ ohne weiteren Zusatz verwendet werden. Die
im Zeichen einer ökonomischen Krise sich vollziehende Entwicklung des
Liberalismus in Österreich nach 1879, die das (positive) Erbe der Aufklä-
rung in der Tat verspielt hatte, indem sie im Vergleich zu den Ländern des
Westens doktrinärere und autoritärere Varianten zuließ, förderte die Ten-
denz, auf vorindustrielle Traditionen zurückzugreifen.203 Es sei aber darauf
hingewiesen, dass sich aus den untersuchten Quellen auch ein positiver Li-
beralismusbegriff herausschälen lässt, etwa im Sinn des nach 1945 aufge-
kommenen sogenannten Ordoliberalismus (Kap. 4.1). Zu beachten ist, dass
in viele Überlegungen – gleichsam als Grundbefindlichkeit – das Gefühl,
196 reitmayer, Politisch-soziale Ordnungsentwürfe, 39–41.
197 röd, Der Weg, 438 f.; zur Kritik an Schelers Soziologie vgl. PöGGeler, Max Scheler, 153 f.
198 schneider, „Vorbilder“, 181–185.
199 Göhler, Liberalismus, 222–224; heidenreich, Politische Theorien, 11 f.
200 hanisch, Aus den Tiefen, 26–28; hanisch/urbanitsch, Prägung, 35–50.
201 schreyer, Die „Nation“, 57.
202 GG 3 (1982), 741–744 (Liberalismus, R. vierhaus); zu den Schwierigkeiten einer verbindli-
chen Definition von Liberalismus vgl. Glass/serloth, Selbstverständnis, 27.
203 hanisch/urbanitsch, Prägung, 59 f. 1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE40
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580