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das liberale System nicht mehr auf dem Boden der protestantischen Ethik
innerweltlicher Askese bewegt; daher laufe es auf Vernichtung der Per-
son, ja der gesamten Schöpfung hinaus.213 In einem Atemzug mit Adam
Smith und David Ricardo, jenen klassischen Verfechtern dieses Systems,
deren anthropologisches Axiom das dem Menschen angeborene, wenn auch
von einem an moralischen Normen orientierten Gewissen domestizierte
Selbstinteresse als Ursprung des Leistungswillens war214, nannte Höfler
weitere Vertreter der „modernen Wissenschaft“, die ähnlich „verderb-
liche Methoden“ entwickelt hätten, nämlich Karl Marx, Charles Darwin
und Sigmund Freud.215 Gegen diese materialistisch-naturwissenschaftlich
geprägten Autoren, die, anders als er selbst, einen eher nomothetischen
als idiographischen Zugriff auf ihre Gegenstände wählten, berief sich Höf-
ler auf so prominente Anwälte einer autonomen Geisteswissenschaft wie
Wilhelm Dilthey oder Wilhelm Windelband216 und identifizierte sich mit
Klassikern der Weltliteratur217 bzw. kulturkritischen Autoren218, die exis-
tentielle Fragen um persönliche Verantwortung und um das Verhältnis
zwischen Individuum und Gesellschaft zum Thema ihrer Dichtungen bzw.
sonstigen Äußerungen gemacht hatten. Trotz aller nicht zu übersehenden
Sorge lassen Höflers Ausführungen nicht Pessimismus, sondern christli-
che Zuversicht erkennen.219 Hervorzuheben ist sein Anknüpfen an die scho-
lastische philosophia perennis220, weil sich hierin der auch bei den in der
vorliegenden Studie befragten Personen tief verankerte Glaube an zeitlose
Werte spiegelt, die, anders als Interessen, nicht verhandelbar sind und
keine Kompromisse erlauben.221 Auf dieser Grundlage definierte Höfler den
Begriff „Stand“ ganz unorthodox – und mit einem Wertewandel nicht rech-
nend – als „die nach alter Schule gebildeten Menschen“.222 Die „bleibenden
Stände“ seien schwer zu beschreibende „erhaltende kleine Kreise unserer
Gesellschaft“, die in Gegensatz zu den „jetzigen“ [sc. späte 1970er-Jahre, E.
K.] Staaten [Hervorhebung von mir, E. K.] stünden.223 So ist also ein viel
213 thienen-adlerflycht, Einleitung, 9 f.
214 schäfer, Perspektiven, 137 f.
215 höfler, Bleibende Stände, 145.
216 höfler, Bleibende Stände, 329–331.
217 Beispielsweise Antoine de Saint-Exupéry, Alexander Solschenizyn, Charles Dickens, Rud-
yard Kipling oder Selma Lagerlöf.
218 Beispielsweise Ernst Wiechert oder Imma von Bodmershof.
219 thienen-adlerflycht, Einleitung,11 f.
220 höfler, Bleibende Stände, 217.
221 stollberG-rilinGer, Die Historiker, 36.
222 höfler, Bleibende Stände, 20.
223 höfler, Bleibende Stände, 200 f. 1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE42
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580