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Es war ein Wesensmerkmal dieses Regimes, dass die Gruppe seiner Un-
terstützer zwar mächtig, aber zahlenmäßig klein war.231 Dass es in Österreich
bereits 1933, wie Bundeskanzler Dollfuß in einem Schreiben an Mussolini
festhielt, zu einer „allgemeine(n) Umstellung der öffentlichen Meinung im
Sinne berufsständischer und autoritärer Reformen“ gekommen wäre232, ent-
sprang bloßem Wunschdenken, schon deshalb, weil gerade die städtische Be-
völkerung bereits weitgehender Säkularisierung erlegen war.233 Die Realität
dürfte eher die vom päpstlichen Nuntius Enrico Sibilia Ende 1935 beschrie-
bene gewesen sein, nämlich dass die österreichische Regierung höchstens 30
Prozent der Bevölkerung hinter sich habe.234
Alexander Lernet-Holenia hatte eine noch kleinere Gruppe vor Augen,
als er die Befindlichkeit der Mehrheit der Bevölkerung Österreichs am
Vorabend des „Anschlusses“ wie folgt einschätzte: „Widerstand gegen die
Wegnahme des Staates wird überhaupt weder in der Aristokratie selbst zu
suchen sein, noch im Bürgertum selbst, noch unter der Arbeiterschaft oder
unter den Bauern, die ja Staaten im Staate sind.“ Der Dichter ortete diesen
Widerstand „nur in jener hoffnungslos dünnen Schicht, die sich aus Parti-
keln aller anderen Schichten zusammensetzt und ergänzt und um deretwil-
len die Welt noch die Welt ist“.235
In der letztgenannten Formulierung verdichtet sich das eigentliche Anlie-
gen der Studie. Die Analyse bewegt sich nicht im realhistorischen Bereich,
wohl aber im Diskurs einer konservativen Elite, der sich am Ende als uto-
pisch erweisen sollte. Ziel ist es, dem von dieser Seite kommenden Wider-
stand gegen den Nationalsozialismus schärfere Konturen zu verleihen und
eine gewisse Klarheit in die nach wie vor als schwierig empfundene „theore-
tische Einordnung“236 des Ständestaates zu bringen, auch die „Diskrepanzen
zwischen deklariertem Selbstverständnis und politischer Wirklichkeit“237
besser zu verstehen.
231 mittelmeier, Austrofaschismus, 98 f.
232 maderthaner/maier, Der Führer, 32.
233 hanisch, Der Politische Katholizismus, 80 f.
234 carsten, Faschismus, 253; vgl. auch GoldinGer/binder, Geschichte, 193.
235 lernet-holenia, Der Graf, 150 f.; vgl. Roček, Die neun Leben, 249.
236 hanisch, Der lange Schatten, 310.
237 tálos/manoscheK, Aspekte, 124; vgl. auch wohnout, Verfassungstheorie, V.
1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE44
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580