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grunde liegenden Regeln beschrieben zu haben. Er stützte sich auf die von
Ferdinand de Saussure begründete Unterscheidung zwischen den Begriffen
„langue“ und „parole“, die das Regelwerk der Sprache und deren Konventi-
onen bzw. die Einzeläußerungen bezeichnen und in ihrer Wechselwirkung
beschreibbar machen.36
Da sich Diskursanalyse nach dem Verständnis der Cambridge School
als Weiterentwicklung der Hermeneutik versteht37, bleibt sie partiell auf
deren Methoden angewiesen. Dies gilt insbesondere für jenen Akt, der me-
thodisch am Beginn steht, nämlich die Corpusbildung. Die hierbei leiten-
den Gesichtspunkte sind die semantischen Beziehungen zwischen den auf
den Forschungsgegenstand bezogenen Texten, die möglichst vollständig und
mit Blick auf repräsentative Aussagen erfasst werden müssen. Semantik
in diesem Sinne (und nach Foucault) überschreitet den durch bloße Wort-
und Satzgrenzen definierten Bereich.38 Was zählt, sind nicht nur einzelne
Begriffe, sondern Begriffsnetze, die sich in mehreren Texten zugleich ent-
falten, nicht nur lexikalische Bedeutungen, sondern auch Voraussetzungen
und Möglichkeitsbedingungen, bis hin zu einer Art Tiefensemantik des nicht
offen Ausgesprochenen.39
Im gegenständlichen Fall ist bei den diesbezüglichen Entscheidungen die
bereits zitierte Äußerung von Johann Kleinhappl SJ hilfreich: „Wollen wir
den ständischen Gedanken richtig erfassen, so müssen wir von der Wesens-
art des Menschen selbst ausgehen“40 – und nicht, so muss man mit Blick auf
die geltende Meistererzählung über den österreichischen Ständestaat ergän-
zen, von den unter dem Eindruck eines in der Tat epochalen Umbruchs41
gesetzten äußeren Maßnahmen des Systems, deren teilweise Anfechtbarkeit
heute selbstverständlich außer Streit steht. Zu berücksichtigen ist insbeson-
dere, dass damals noch viele Menschen der für den modernen Staat typi-
schen Versachlichung42 mit Angst begegneten. Es gilt, diese zu „verstehen“,
im Sinne der Bedeutung dieses Wortes als der – bei allem kritischen Bemü-
36 PococK, The Concept, 96–106; vgl. bevir, Geist, 210; bevir, The role, 165 f.; bödeKer, Aus-
prägungen, 20; hellmuth/schmidt, Pocock, Skinner, 266; hellmuth/von ehrenstein, Intel-
lectual History, 157–160; Jütte, Diskursanalyse, 308; landwehr, Historische Diskursana-
lyse, 40 f.; mulsow/mahler, Einleitung, 12; schorn-schütte, Neue Geistesgeschichte, 275;
stollberG-rilinGer, Einleitung, 22 f.
37 Vgl. hierzu boGdal, Historische Diskursanalyse, 12; iGGers, Zur „Linguistischen Wende“,
557 f.
38 busse/teubert, Diskurs, 12–14; landwehr, Historische Diskursanalyse, 110.
39 busse/teubert, Diskurs, 23.
40 CS 23. 12. 1934 (J. KleinhaPPl SJ).
41 noser, Die historische Tragik, 193.
42 breuer, Anatomie, 102; schneider, „Vorbilder“, 182.
2.1 DER DISKURSANALyTISCHE ANSATZ 49
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580