Seite - 51 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 51 -
Text der Seite - 51 -
thode umgesetzt haben.54 Nach Gadamer ist Verstehen kein methodisches
Verfahren im strengen Sinn, sondern ein Vorgang der Verschmelzung von
Horizonten, ein Prozess, der in Gang kommt, wenn historisches Interesse
wach wird. Dieses ist notwendigerweise an den Standort des nach Erkennt-
nis Suchenden gebunden. Ein Anspruch auf restlose Objektivität käme geist-
losem Objektivismus gleich.55 Eine ganz und gar saubere Überwindung der
Distanz zwischen dem Text und dem, der ihn analysiert, liegt, wie Gadamer
dem als Übersetzer sich verstehenden Skinner zu bedenken gab, außerhalb
der Reichweite der Wissenschaft.56 Die rezenteste kritische Auseinanderset-
zung mit der Cambridge School warnt davor, aufgrund der alltagspsycho-
logisch motivierten Annahme einer Norm der Kohärenz bewusste Formu-
lierungen zur Verifikation von Thesen zu erwarten bzw. in positivistischer
Vorgangsweise Thesen heraufzubeschwören, die ihren Subjekten niemals
bewusst wurden.57 Auch ist in Rechnung zu stellen, dass immer viele dis-
kursive Formationen nebeneinander bestehen, in Konkurrenz zueinander
gleichsam, aus denen sich Möglichkeiten individueller Positionierung und je
eigene Formen der Aussage und Wahrnehmung ergeben.58
Gleichwohl sind nicht Willkür oder Beliebigkeit am Werk.59 Wissenschaft
hat die Aufgabe strenger Selbstreflexion und darf nicht den Anspruch auf
letztgültige Wahrheiten erheben.60 Und es bleibt stets der Vorbehalt, dass
die Rechtfertigung der getroffenen Wahl erst durch die Analyse selbst erfol-
gen kann: „Diskursanalyse bedarf daher immer eines Kredits auf noch zu
Leistendes.“61 Die arbeitstechnische Konsequenz ist eine mitunter aufkom-
mende Haltung des Dokumentierens und Referierens. So werden intertextu-
elle Bezüge sichtbar, die ihrerseits Interpretationscharakter haben.
Die diskursanalytische Annäherung an das Thema „Stand“ erfolgt im Be-
wusstsein, dass auch nach der Wirksamkeit von Diskursen gefragt werden
muss, ja dass unter Umständen auch eine „gewalthafte Grundierung und
Begrenzung des Politischen“ in Rechnung zu stellen ist.62 Nicht nur Foucault
54 bevir, Geist, 204; mulsow/mahler, Einleitung, 11.
55 daniel, Kompendium, 104–107.
56 Palonen, Entzauberung, 330 f.
57 bevir, Geist, 236–239.
58 landwehr, Historische Diskursanalyse, 94.
59 Ein leicht zu erfüllendes Objektivitätskriterium ist eine bestimmte diachrone und syn-
chrone Häufigkeit miteinander verbundener Aussagen, die von Foucault geforderte Wie-
derholung und Gleichförmigkeit von immer wieder ähnlich Gesagtem und Geschriebenem;
landwehr, Historische Diskursanalyse, 71.
60 landwehr, Historische Diskursanalyse, 171.
61 busse/teubert, Diskurs, 17.
62 hauPt, Historische Politikforschung, 311.
2.1 DER DISKURSANALyTISCHE ANSATZ 51
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580