Seite - 61 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 61 -
Text der Seite - 61 -
und konstruierten ein Milieu, das als Gegenkultur sowohl zur bürgerlichen
als auch zur katholischen Kultur zu verstehen ist; weltanschauliche Gegner
wurden als Klassenfeinde abgewertet.18 Aber auch die seit 1921 unter Sei-
pels Führung stehende CSP glaubte nicht an die Möglichkeit einer Verstän-
digung mit der Sozialdemokratie; in den Bereichen Schule und Ehe fand eine
Art Kulturkampf statt.19
Die mächtige christliche Arbeiterbewegung war sozioökonomisch ein Teil
der Arbeiterschaft, verstand sich aber als Gegengewicht zur Sozialdemokra-
tie; in ihrer realpolitischen Ausrichtung war sie dem politischen Konserva-
tismus verpflichtet und hatte das Bild einer harmonischen Gesellschaft vor
Augen.20 Die Einbindung der Arbeiter in den Staat gelang ihr aber nicht.21
Im Linzer Programm von 1923 wurden die Maximen festgeschrieben. Redak-
teur und offizieller Kommentator war Karl Lugmayer, eine der prägenden
Gestalten des Ständestaates.22
Eine Verschärfung des politischen Klimas brachte das Auftreten parami-
litärischer23 Verbände, die die stark reduzierte österreichische Armee zah-
lenmäßig übertrafen; als außerparlamentarische Hilfskräfte der Parteien
ließen sie das Bild einer „Gewaltinflation“24 entstehen. Während der Repu-
blikanische Schutzbund dem sozialdemokratischen Lager zuzuordnen ist,
wurde in den Reihen der Gegner des Marxismus die Heimwehr aufgebaut.
Am Anfang hatten Bürgerwehren ehemaliger Frontkämpfer gestanden, die
sich nach Kriegsende – in einer traumatischen psychischen Situation der
Bevölkerung25 – gebildet hatten.26 In sozialer Hinsicht bildeten Bauern die
292 f.; tálos, Handbuch, 152 (H. dachs) und 432–434 (D. lehnert); wandrusZKa, Struktur,
291.
18 brucKmüller, Sozialgeschichte, 407 f.; seliGer, Scheinparlamentarismus, 25.
19 ebner, Politische Katholizismen, 163; schmit, „Im Namen“, 152; wohnout, Bürgerliche Re-
gierungspartei, 184–189.
20 Pasteur, Kruckenkreuz, 20; PelinKa, Stand, 30–34 und 195–200; schmit, Christliche Arbei-
terbewegung, 3 f., 9 f., 64–73, 85 f., 126–129 und 144 f.; seliGer, Scheinparlamentarismus,
25; streitenberGer, Leitbild, 81 f.; tálos, Herrschaftssystem (2013), 257–261; unterrainer,
Wirtschaftspolitik, 48.
21 JaGschitZ, Ständestaat, 510 f.; steiner, Wahre Demokratie?, 197.
22 KluGe, Bauern, 426; F. luGmayer, Karl Lugmayer, 141; PelinKa, Stand, 28–30; Pribyl,
Der christlichsoziale Politiker, 136–139; reichhold, Geschichte, 436 und 440–443; schmit,
Christliche Arbeiterbewegung, 29 f.
23 Zur Problematik dieses Begriffs in Hinblick auf die politischen Zwecke der Wehrverbände
vgl. tálos, Handbuch, 261 f. (C. Earl edmondson); eine Chronologie der Aktivitäten, die
zugleich ein Bild von der Vielfalt der Organisationen entstehen lässt, bei botZ, Gewalt,
88–107.
24 neuGebauer, Die Anfänge, 73.
25 newman, Zerstörung, 293.
26 falle, Wurzeln, 66–71; Kriechbaumer, Erzählungen, 545–547; rathKolb, Erste Republik,
3.1 ÖSTERREICH 1918–1938 61
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580