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sprach er bei einer Begegnung mit dem britischen Außenminister von ei-
nem aus Deutschland ausgehenden „Terrorismus in großem Umfang“. Seine
Sorge war umso berechtigter, als die Nationalsozialisten ab 1930 bei Land-
tags- und Gemeindewahlen stark zugelegt hatten und staatliche Stellen und
Behörden von deren Gedankengut durchsetzt waren.60
Hitlers politisches Handeln war von tief sitzendem Hass auf das alte
Österreich diktiert, den er auch auf die Republik übertrug.61 Je mehr sich
der Nationalsozialismus in Deutschland etablierte, desto drückender wur-
den die gegen Österreich gerichteten Maßnahmen, und die Regierung war
nicht mehr in der Lage, Außen- und Innenpolitik zu trennen. Das Dritte
Reich inszenierte eine Art Propagandakrieg und startete eine landesweite
Terrorkampagne. Am 19. Juni 1933 wurde die NSDAP verboten.62
Am stärksten wurde Österreich durch Wirtschaftssanktionen getroffen63,
besonders durch die am 26. Mai 1933 verhängte sogenannte Tausendmark-
sperre.64 Deutsche Wirtschaftsinteressen in Österreich wurden auf dem
Kreditweg begünstigt – wie überhaupt die österreichische Wirtschaft im-
mer stärker in die Überlegungen der Deutschen einbezogen wurde.65 Viktor
Kienböck, seit 1932 Nationalbankpräsident, suchte die Währung in enger
Verknüpfung mit dem Westen zu stabilisieren und lehnte wirtschaftliche
Verflechtungen mit Deutschland ab.66
Am 11. September 1933 kündigte Bundeskanzler Dollfuß in einer Rede
am Wiener Trabrennplatz die Abkehr von der parlamentarischen Demokra-
tie und den ständischen Neubau auf christlicher Basis an.67 Während der
autoritäre Kurs auf Seiten der Regierung als Stabilisator gedacht war, be-
merkte Otto Bauer dazu: „Auf die Dauer werden nicht 30 Prozent des Volkes
über 70 Prozent, nicht das Dorf über die Großstadt, nicht der Klerikalismus
60 friedl, Zusatzprotokolle, 69; GoldinGer/binder, Geschichte, 205; Kindermann, Österreich,
39 und 55 f.; simon, Die verirrte Erste Republik, 95–100.
61 ross, Hitler, 29–76; wohnout, Schritte, 55–58.
62 P. berGer, Kurze Geschichte, 152; binder, Der „Christliche Ständestaat“, 205; botZ, Ge-
walt, 186–192, 215–219 und 260–266; carsten, Faschismus, 231–234; hanisch, Der lange
Schatten, 319; Kindermann, Österreich, 49–53 und 183 f.; neuGebauer, Die Anfänge, 74–76;
reichhold, Kampf, 52–55; simon, Die verirrte Erste Republik, 105–107; weinZierl, Zeitge-
schichte, 228 f.; wohnout, Dreieck, 89.
63 Zur Wahrnehmung von Österreichs Not im Westen vgl. P. berGer, Im Schatten, 284 f.
64 binder, Alte Träume, 497 f.; Kindermann, Österreich, 47–49 und 136; ross, Hitler, 47;
tálos, Herrschaftssystem (2013), 501.
65 binder, Alte Träume, 505 f.; vorsichtigere Einschätzung dieses Einflusses mathis, Wirt-
schaft oder Politik?
66 P. berGer, Im Schatten, 221 f., 226–231 und 332–341; senft, Neues, 244–246.
67 brauneder, Verfassungsgeschichte, 234; JaGschitZ, Dollfuß, 206; tálos, Voraussetzungen,
259; tálos, Herrschaftssystem (2013), 39 und 69; wohnout, Verfassungstheorie, 134 f.
3.1 ÖSTERREICH 1918–1938 65
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580