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Gesellschaft sowie Wesen und Zweck des menschlichen Gesellschaftslebens
sprach. Seine Auffassung der Gesellschaft als Organismus und den Willen,
sich von Individualismus, Liberalismus und Sozialismus zu distanzieren375,
hatte er schon in den sechziger Jahren, als er in München studierte bzw.
in der Seelsorge wirkte, geäußert. Die Auseinandersetzung mit Thomas von
Aquin brachte ihn dem Dominikanerorden nahe, in den er 1876 eintrat. In
den folgenden Jahren lehrte Weiss in Österreich. 1890 erhielt er einen Ruf
an die Universität Fribourg, wo er fortan Gesellschaftswissenschaft lehrte.
1892–1894 wieder in Österreich (Graz und Wien), kehrte er 1895 auf seine
Schweizer Lehrkanzel zurück, die er 1919 freiwillig verließ. 1898 erschien
sein Hauptwerk Apologie des Christentums vom Standpunkt der Sitte und
Kultur. Weiss war ein Theologe ultramontaner Gesinnung, der die Kirche
nach Kräften vor modernistischen Tendenzen zu bewahren versuchte.376
Franz Martin Schindlers Nachfolger auf der Wiener Lehrkanzel für
Moraltheologie (ab 1917) und ebenfalls Mitglied der Leo-Gesellschaft war
Ignaz Seipel, der seine Ideen intellektuell und politisch weitertrug377, aber
auch ein eigenes Profil entwickelte. Der nachmalige Bundeskanzler, der sich
1908 mit der Arbeit Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter bei
Schindler habilitiert hatte, verstand Politik als angewandte Moraltheologie
und stellte sie in den Dienst der Seelsorge.378 Anders als Vogelsang betonte
er die Rolle der Kirche in weltlichen Angelegenheiten als ecclesia accomo-
data.379 Sein wirtschaftspolitisches Credo ging auch weit über Schindler hi-
naus:380 „Wir machen bewusst und gewollt einen kapitalistischen Kurs.“381
Einer der Wegbereiter desselben war, freilich in gemäßigten Formen, der
Theologe und Nationalökonom Heinrich Pesch SJ.382 Er ist der Begründer
des sogenannten Solidarismus, des neben dem Universalismus einzigen ge-
schlossenen ständestaatlichen Gesellschaftsbildes der Zeit.383 Diese Lehre,
375 A. M. weiss, Individuum, 14.
376 rivinius, Weiss, passim; vgl. Knoll, Der soziale Gedanke, 97–100.
377 boyer, Wiener Konservativismus, 344; diamant, Katholiken, 98; hörmann, Moraltheologie,
200–205; schönner, Moraltheologe, 329; wandrusZKa, Struktur, 318; wohnout, Bürgerliche
Regierungspartei, 183.
378 K. v. KlemPerer, Ignaz Seipel, 92 f.; LK, 502 (Chr. v. thienen-adlerflycht).
379 boyer, Wiener Konservativismus, 343; K. v. KlemPerer, Ignaz Seipel, 95; marKo, Ernst
Karl Winters Kritik, 136–140; sieGfried, Universalismus, 83.
380 unterrainer, Wirtschaftspolitik, 19–21; wohnout, Bürgerliche Regierungspartei, 186.
381 Zit. nach KabelKa, Anton Orel, 73.
382 Klose, Geistige Grundlagen, 55; roos, Entstehung, 108; unterrainer, Wirtschaftspolitik,
17 f.
383 anZenbacher, Christliche Sozialethik, 142 f.; bohn, Ständestaatskonzepte, 32; P. nolte,
Ständische Ordnung, 244; schmit, Christliche Arbeiterbewegung, 29; seefried, Reich, 122
f.; unterrainer, Wirtschaftspolitik, 26–28.
3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN94
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580