Seite - 99 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 99 -
Text der Seite - 99 -
wusste das: Im März 1934 lehnte er im Ministerrat die Verbindung des Stän-
degedankens mit der Staatsform ab, weil die berufsständische Ordnung die
Gesellschaft, nicht den Staat betreffe.413
Selbst Ignaz Seipel verstand QA nicht richtig. Er fand darin u. a. die ei-
gene Skepsis gegenüber den Parteien bestätigt.414 Sein Wort hatte damals
innerhalb des politischen Katholizismus solches Gewicht, dass Widerspruch
gegen diese verengende Darstellung ausblieb.415 Auch Johannes Hollnsteiner
ließ ein irriges Verständnis des Rundschreibens erkennen.416
Kritik an der politischen Instrumentalisierung der Enzyklika kam von
deren „Autor“ Oswald von Nell-Breuning SJ und von Gustav Gundlach
SJ, einem der Berater des Papstes, beides führende Vertreter des Solida-
rismus und Fortsetzer von Peschs Werk.417 Eine Erläuterung aus der Feder
Nell-Breunings, dem vor allem die Distanzierung vom Faschismus wichtig
war, erschien noch 1931 im NR.418 Gundlach setzte den Akzent auf den ge-
sinnungsethischen Anspruch.419 Im Sommer 1932 ließ die SZ betreffend die
Umsetzung von QA zwei Autoren zu Wort kommen, die das Rundschreiben
unterschiedlich bewerteten: den Solidaristen Heinrich Getzeny420 und – als
Korrektiv – Walter Heinrich, der die universalistische Lesart vertrat.421 Im
selben Jahr forderte Anton Klotz bei der Verwirklichung der berufsständi-
schen Ordnung die Orientierung an QA und Heinrich Pesch.422 Im Dezember
1933 überreichten die österreichischen Bischöfe dem Bundeskanzler eine
Denkschrift, die eine ambivalente Haltung zeigte.423 1935 folgte in der SZ
eine weitere Stellungnahme aus solidaristischer Perspektive.424 Der Papst
selbst distanzierte sich vom Verständnis der Enzyklika als Muster für eine
413 PMR VIII/6, Prot. 930 (20.–29. 3. 1934), 141; ein weiterer Mandatar, der QA richtig deu-
tete, war Ulrich Ilg; ilG, Lebenserinnerungen, 19; für Otto Bauer war dies ohnehin selbst-
verständlich; hanisch, Illusionist, 291.
414 diamant, Katholiken, 172; wohnout, Verfassungstheorie, 49–52.
415 wohnout, Regierungsdiktatur, 51.
416 buchmayr, Der Priester, 104.
417 beyer, Ständeideologien, 123; hättich, Wirtschaftsordnung, 52–54; hanisch, Die Ideolo-
gie, 24; hense, Der staats- und europarechtliche Gehalt, 405–409; P. huemer, Entstehung,
614–617; Kriechbaumer, Front, 24; KrüGer, Demokratisches und ständisches Denken, 327
f.; orGler, Ständestaat, 82–85 und 180; roos, Entstehung, 109 f. und 114 f.; sieGfried, Uni-
versalismus, 142; wohnout, Verfassungstheorie, 54 f.; wohnout, Bürgerliche Regierungs-
partei, 197.
418 NR 8. 8. 1931 (O. v. nell-breuninG).
419 meyer, Stand, 221 f.
420 SZ 26. 6. 1932 (H. GetZeny).
421 SZ 21. 8. 1932 (W. heinrich).
422 KlotZ, Probleme 2, 161–163.
423 liebmann, Die Kirche, 114; liebmann, Kirche und Politik, 34.
424 SZ 20. 1. 1935 (J. KleinhaPPl sJ).
3.4 DIE ENZyKLIKA QUADRAGESIMO ANNO UND DIE KATHOLISCHEN SOZIALTHEORETIKER 99
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580