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ner Begrifflichkeit gelegen haben, die selbst Vokabeln wie „wahrer Kommu-
nismus“ oder „Urkommunismus“ nicht scheute.472
Ebenfalls auf die Arbeiterschaft ausgerichtet, teilweise im Gleichklang
mit Orel473, war das Denken von Ernst Karl Winter. Wiewohl seiner Grund-
einstellung nach katholisch und konservativ (in der Tradition Vogelsangs474),
in der Jugend sogar der Action Française, einer korporativistischen politi-
schen Intellektuellenbewegung475, nahestehend476, bemühte er sich, auch
die Sozialdemokraten zur Mitarbeit im Staat zu gewinnen.477 Davon über-
zeugt, dass es eine soziale Ordnung außerhalb der Rechtsordnung (im Sinn
Hans Kelsens) gebe478, kritisierte er an dieser Partei, sie hätte die politische
und die soziale Revolution verwechselt: In Wirklichkeit könne die politische
Revolution die soziale nicht vorantreiben.479 Daher hielt er die Verbindung
eines radikal sozialreformerischen Programms mit politischem Konservatis-
mus für möglich.480 Als überzeugter Gegner des „Anschlusses“ forderte er,
auch die Linke für die Eigenständigkeit Österreichs zu gewinnen.481 Am 10.
März 1933 erläuterte Winter in einem Brief an Bundespräsident Miklas482,
den „aus konservativer Verantwortung für das Ganze stammenden Gedan-
ken der Verständigung aller Gruppen des Staates“ und forderte den Brü-
ckenschlag zur Opposition.483 Am 1. April schrieb er dem Staatsoberhaupt, es
sei ein tiefes Gerechtigkeitsgefühl, das „die letzte Wurzel des konservativen
Denkens ausmacht“. Auch ohne Sozialist zu sein müsse man den Brücken-
schlag mit der Linken vornehmen.484
Der 12. Februar 1934 bedeutete für Winter das Scheitern seines Verstän-
digungsversuchs; er war aber weiterhin bereit, sich der Arbeiter anzuneh-
men.485 Mit der sogenannten Aktion Winter startete er einen in Vorträgen
472 neGer, Verfassung, 24.
473 reichhold, Anton Orel, 28.
474 anZenbacher, Christliche Sozialethik, 144; bader, Ernst Karl Winter, 364; heinZ, E. K.
Winter, passim; hoPfGartner, Schuschnigg, 132 f.
475 Kondylis, Konservativismus, 460–462; Payne, Geschichte, 58.
476 O. weiss, Rechtskatholizismus, 22.
477 bader, Ernst Karl Winter, 363; binder, Der „Christliche Ständestaat“, 219; diamant, Katho-
liken, 203; marKo, Ernst Karl Winters Kritik, 128.
478 bader, Ernst Karl Winter, 369; diamant, Katholiken, 205.
479 marKo, Ernst Karl Winters Kritik, 148.
480 bader, Ernst Karl Winter, 365; diamant, Katholiken, 208; sehr prägnant seine eigenen For-
mulierungen im amerikanischen Exil; ePPel, Österreicher 2, 239 und 284 f.
481 Potočnik, Bewusstsein, 135–137; seliGer, Scheinparlamentarismus, 31.
482 lanG, Bundespräsident Miklas, 113–118.
483 heinZ, E. K. Winter, 19 f.
484 heinZ, E. K. Winter, 26.
485 heinZ, E. K. Winter, 173. 3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN104
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580