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er am 6. November in einem Gespräch mit dem deutschen Botschafter in
London, das italienische Interesse an Österreich sei nicht mehr so lebendig
wie in der Vergangenheit, weil andere Prioritäten hinzugekommen seien.825
Während eine Konferenz der Römer-Protokoll-Staaten in Budapest im
Januar 1938 eine Bestätigung der seinerzeitigen Abmachungen brachte,
verschlechterte sich das Verhältnis zwischen Österreich und Deutschland
zusehends. In dieser Situation wandte sich Italien vom einstigen Schutzbe-
fohlenen ab826: Das Treffen von Berchtesgaden am 12. Februar 1938 kom-
mentierte Mussolini denn auch – bei allem Lob für das Verhalten Öster-
reichs827 – verstimmt, und als der „Anschluss“ vollzogen war, erklärte er,
gegen den Willen von Österreichs Bevölkerung brauche Italien dessen Unab-
hängigkeit nicht mehr zu verteidigen.828 Er hatte sichtliche Mühe, den „An-
schluss“ nicht als italienischen Misserfolg erscheinen zu lassen.829 Nach Kurt
Schuschniggs späterer Einschätzung hätte Hitlers Aktion gegen Österreich
zumindest aufgeschoben werden können, wenn nicht Mussolini durch seine
unberechenbare Politik das Misstrauen der Westmächte geweckt hätte.830
Die Beurteilung des italienischen Faschismus in Österreich
Explizite Aussagen zum italienischen Faschismus finden sich in Österreich
vornehmlich in der katholisch-konservativen Presse, selten hingegen in den
Schriften der Mandatare. Manche Autoren äußerten sich in selbständigen
Publikationen. Das Spektrum der Themen war breit, berücksichtigte auch
tief liegende Zusammenhänge zwischen Wirtschaft und Gesellschaft sowie
weltanschauliche Fragen.
Eine Einschätzung des Verhältnisses zwischen italienischem Faschismus
und Heimwehr versuchte Anton Klotz 1934: Die Heimwehr sei keine Partei,
weswegen sie mehr Integrationskraft besitze als der PNF; beiden Bewegun-
gen gehe es um die Wiederherstellung der staatlichen Autorität und um den
berufsständischen Aufbau. Allerdings kenne Österreich Mussolinis elitären
Gedanken von einer herrschenden Schicht nicht; die Grundwerte dieses
Landes kämen aus einer konservativen Tradition, die Italien fremd sei.831
825 ara, Österreichpolitik, 121 f.; di nolfo, Rapporti, 80 f.
826 schmölZer, Beziehungen, 242–249.
827 K. schuschniGG, Requiem, 249.
828 de felice, Breve Storia, 86 f.
829 ara, Österreichpolitik, 124–126; di nolfo, Rapporti, 41; schmölZer, Beziehungen, 250–259;
vgl. K. schuschniGG, Im Kampf, 350–353.
830 K. schuschniGG, Im Kampf, 272 f.
831 KlotZ, Sturm, 11 f.
3.5 DIE NACHBARSCHAFT DES FASCHISTISCHEN ITALIEN 139
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580