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deordnung ihre besten Kräfte gab“, kultiviert.952 Berufsständische Ordnung
und Kapitalismus seien nicht miteinander vereinbar.953
Knolls Gedanken wurden von Aurel Kolnai wiederholt kritisch rezipiert.
Obwohl der ungarische Philosoph ein konservativer Denker war, der die Ge-
sellschaft hierarchisch geordnet sah und soziale Privilegien verteidigte954,
entlarvte er 1934, kurz vor der Veröffentlichung der Maiverfassung, im so-
zialdemokratischen Blatt Der Kampf ständische „Ideologien“ als nebulös,
vieldeutig und widersprüchlich und wies sie als reaktionär im Dienst der
Herrschaftsansprüche der „Oberklasse“ zurück.955 Harsche Kritik übte er an
Othmar Spann und am Faschismus. An den katholischen Ständelehren be-
mängelte er ihre vermeintliche Demokratiefeindlichkeit.956
Josef Dobretsbergers Ständetheorie957 ist dem vor der „Herrschaft der In-
kompetenten“ warnenden schwedischen Staatsrechtler und Reichstagsabge-
ordneten Rudolf Kjellén verpflichtet, dessen auf Deutsch verfasstes Haupt-
werk Der Staat als Lebensform 1917 erschienen war.958 Auf den von vielen
Zeitgenossen eingeschlagenen Kampfton verzichtend und zwischen christ-
lichsozialer Tradition und Manchester-Liberalismus sich bewegend959, ver-
mied Dobretsberger generalisierende Aussagen. In diesem Sinne verwahrte
er sich auch gegen mögliche faschistische Einflüsse auf Österreich.960 Als
Ursache für die zeittypischen Vorbehalte gegen die Parteien nannte er die
„Spaltung zwischen unserer Ideenwelt und unserer politischen Lebensform“.
Das Problem Österreichs liege darin, dass die Lebensweise dieses Landes
noch die der vergangenen Epoche sei und dass im Staatsrecht starrer For-
malismus herrsche, während im kulturellen Bereich seit der Jahrhundert-
wende das Metaphysische eine neue Bedeutung erlangt habe. Diesem wider-
strebe der Ausgleich in der Mitte, es ziele auf Totalität.961 In einem Vergleich
des liberalen Staates mit dem autoritären Ständestaat verdichten sich alle
zeittypischen Argumente gegen Gesellschaftsvertrag, Volkssouveränität und
Parlamentarismus (Kap. 4.1).962
952 Knoll, Das Ringen, 3 f. und 6.
953 Knoll, Ziel, 11 f. und 17.
954 ePPel, Zwischen Kreuz, 78; Grassl, Kolnai; hofer, Joseph Eberle, 154 und 163 f.
955 Kolnai, Ideologie, 13 f.
956 Kolnai, Ideologie, 20–22
957 Vgl. auch seine Präsenz in der katholisch-konservativen Publizistik; SZ 16. 12. 1934 (J.
dobretsberGer); MSchKP 2, 927 f.
958 dobretsberGer, Vom Sinn, 39; vgl. auch CS 14. 1. 1934 (E. Prettenhofer); boterman, Os-
wald Spengler, 177; Anton Klotz berief sich ebenfalls auf Kjellén; KlotZ, Sturm, 47 f.
959 binder, Der „Christliche Ständestaat“, 217.
960 dobretsberGer, Vom Sinn, 17 f.
961 dobretsberGer, Vom Sinn, 10–14.
962 dobretsberGer, Vom Sinn, 23 f. 3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN160
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580