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schwere Einwände.1058 Dem Ständegedanken stand er jedoch positiv gegen-
über; ausgehend von den päpstlichen Sozialenzykliken1059, setzte er sich mit
dessen verfassungsrechtlichen Aspekten auseinander. Eine 1934 in den Ju-
ristischen Blättern veröffentlichte Stellungnahme zur Maiverfassung (Die
ständisch-autoritäre Verfassung Österreichs. Ein kritisch-systematischer
Grundriß) erschien 1935 als Buch: das Werk eines wissenschaftlichen Kom-
mentators, nicht eines politischen Beraters.1060 Er begann mit der Verfas-
sung von 1920, die er lobte; sie sei aber auf einen demokratisch noch un-
fruchtbaren Boden gefallen. Merkl teilte die zeittypischen Vorbehalte gegen
den Parlamentarismus (eine bloße „Repräsentationstechnik“1061); er sprach
von Parlamentsabsolutismus und Diktatur der Parteien und nannte die
Erste Republik eine Demokratie ohne Demokraten.1062
Aber auch gegen die Maiverfassung hatte Merkl Einwände. Schon der
Wortlaut der Präambel störte ihn: Die Formulierung, dass das Volk die Ver-
fassung „erhält“, stehe in Gegensatz zur Beachtung demokratischer For-
men.1063 Die ständischen Bestimmungen seien allzu verstreut und stünden
in unerwartetem systematischen Zusammenhang.1064 Er beanstandete auch,
dass sich die Verfassung zur Kompetenz der Berufsstände nicht äußere und
dass ihr Wirkungskreis nicht deutlich sei. Die Berufseigenheit hafte keiner
sozialen Aufgabe von vornherein an, sondern werde erst nachträglich be-
gründet, indem eine Berufsgruppe eine bestimmte Angelegenheit für sich in
Anspruch nehme oder von einer außen stehenden Autorität zugewiesen be-
komme.1065 Noch schwerer wog der Einwand, die ständische Ordnung sei Teil
der staatlichen Ordnung.1066 Weitere Kritik betraf den Zentralismus und das
Führerprinzip in der Regierung1067 und einen problematischen Umgang mit
den Grundrechten.1068 1936 hob Merkl in einem Presseartikel allerdings die
Wiederbelebung des föderalistischen Prinzips anerkennend hervor.1069
Der Abhandlung von 1935 ließ Merkl 1937/38 eine Artikelserie im Ös-
terreichischen Volkswirt folgen, die später unter dem Titel Probleme der
1058 Grussmann, Adolf Julius Merkl, 37; leser, Merkls Analyse, 215–217; olechowsKi/stau-
diGl-ciechowicZ, Staatsrechtslehre, 232 f.
1059 olechowsKi/staudiGl-ciechowicZ, Staatsrechtslehre, 239.
1060 Grussmann, Adolf Julius Merkl, 38; leser, Merkls Analyse, 218–221.
1061 merKl, Verfassung, 1–8; MSchKP 1, 403–409 (A. merKl).
1062 buKoscheGG, Das ständisch-autoritäre Österreich, 37–40.
1063 merKl, Verfassung, 15.
1064 merKl, Verfassung, 28.
1065 merKl, Verfassung, 32.
1066 merKl, Verfassung, 29 f.; vgl. KluGe, Ständestaat, 78; leser, Merkls Analyse, 223.
1067 merKl, Verfassung, 13; vgl. leser, Merkls Analyse, 224.
1068 olechowsKi/staudiGl-ciechowicZ, Staatsrechtslehre, 239 f.
1069 MSchKP 1, 398–401 (A. merKl).
3.9 DIE MAIVERFASSUNG IN DER ANALySE KRITISCHER ZEITGENOSSEN 171
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580