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Merkls Kritik an der Vermengung von ständischer und staatlicher Ord-
nung beruhte auf der gründlichen Kenntnis der einschlägigen päpstlichen
Rundschreiben, von der er 1934 mit der Abhandlung Der staatsrechtliche
Gehalt der Enzyklika Quadragesimo Anno Zeugnis gab. Im Gegensatz zu den
Gestaltern der österreichischen Politik hatte er erkannt, dass Pius XI. ein
jenseits der Tagesarbeit stehendes Programm vorgegeben hatte, das der to-
talen Vereinnahmung des Menschen durch den Staat gegensteuern sollte.1080
Merkl las die Enzyklika indes nicht als Aufruf zu einem völligen Rückzug
des Staates als Leitungsinstanz.1081 An weitere Grenzen des berufsständi-
schen Gedankens stieß er bei der Einordnung und Abgrenzung der Berufe,
insbesondere der geistigen1082, bei den Mehrfachzugehörigkeiten und bei der
Situation der Familienangehörigen.1083 Im Verhältnis der Stände zueinan-
der schwebe dem Papst eine Hierarchie vor; er warne vor einer einseitigen
Überbewertung des Wirtschaftlichen auf Kosten des Geisteslebens.1084 Hin-
sichtlich der Willensbildung innerhalb der Stände sei der plebiszitäre Weg
gleichermaßen möglich wie der repräsentative.1085
1934 hatte Merkl im Aufsatz Individualismus und Universalismus als
staatliche Baugesetze eine der Prämissen des ständischen Gedankens ver-
tieft. Gegen ein undifferenziertes Verständnis von Universalismus plädierte
er für eine über- oder außerstaatliche Form, die einem grundsätzlichen Indi-
vidualismus nahe komme, für jenen „metaphysischen Universalismus“, der
sich mit politischem nicht vertrage: ein weiteres Argument also für seine
Vorbehalte gegen einen omnipotenten Staat. Hier liegt der Schlüssel zum
Verständnis der begrifflichen Trennung von „ständisch“ und „totalitär“ in
der 1936 erschienenen Abhandlung Die individuelle Freiheit im autoritären
und ständischen Staat, in der das ständestaatliche Österreich insgesamt
besser abschnitt als noch ein Jahr zuvor.1086 Während der berufsständische
Staat Menschengruppen nach der sozialen Leistung organisiere und an der
Staatswillensbildung beteilige, behandle der autoritäre Staat seine Bürger
gleichsam als Objekte, nicht unähnlich den Untertanen des aufgeklärten Ab-
solutismus. Dies habe zwar eine grundsätzliche Distanzierung der Führung
von den Geführten zur Folge, sei aber nicht totalitär in dem Sinn, dass Staat
und Gesellschaft zur Deckung gebracht würden. Das moderne Österreich
verteidige das Sonderleben des Individuums und der Gesellschaft gegen ei-
1080 merKl, Der staatsrechtliche Gehalt, 208–212.
1081 merKl, Der staatsrechtliche Gehalt, 213–215.
1082 merKl, Der staatsrechtliche Gehalt, 216 f.
1083 merKl, Der staatsrechtliche Gehalt, 217–222.
1084 merKl, Der staatsrechtliche Gehalt, 223–225.
1085 merKl, Der staatsrechtliche Gehalt, 229.
1086 Vgl. buKoscheGG, Das ständisch-autoritäre Österreich, 7–9.
3.9 DIE MAIVERFASSUNG IN DER ANALySE KRITISCHER ZEITGENOSSEN 173
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580