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Für Guido Zernatto bedeutete 1789 zwar die Einräumung erweiterter
Rechte für den Einzelnen, aber diese seien gegen die der Gemeinschaft pro-
klamiert worden; der Mensch sei nicht mehr Glied einer gottgewollten Ord-
nung, sondern eine Einzelexistenz, die im Ernstfall allein gelassen werde.21
Das NR zitierte den italienischen Historiker Guglielmo Ferrero, dem zufolge
die Französische Revolution die Menschen nicht freier, sondern unfreier ge-
macht habe, weil sie Strukturen beseitigt habe, die sie zwar einengten, sie
aber auch vor der Übermacht des Staates schützten. Im 19. Jahrhundert
hätten sich die Staaten zu „Gottheiten“ entwickeln können, aber auch zu
„Maschinen“22, in denen Menschen nicht mehr zählten.23
Richard Schmitz sah ebenfalls nur die negativen Folgen der Französi-
schen Revolution: Sie habe „dem Individualismus und seinem feindlichen
Bruder, dem Sozialismus, den Weg zur Macht über das 19. Jahrhundert“
geöffnet. Nach dem Ersten Weltkrieg seien „hemmungsloser Egoismus der
einzelnen und rücksichtslose Massenpolitik“ hinzugekommen.24 Für Franz
Brandl entsprangen die Friedensverträge einem Geist, „der die Welt nur aus
dem Gesichtswinkel des privaten oder eines Klasseninteresses zu betrachten
vermochte“.25 Er sprach von einer „Gleichgewichtsstörung“ im Aufbau der
Gesellschaft, die im Spannungsfeld zwischen klassenkämpferischem Sozia-
lismus und Individualismus stehe, „beides Lösungen aus der gesellschaftli-
chen Gebundenheit“.26 Das Anliegen der Aufklärung, durch Individualismus
und Demokratie ein Reich der Freiheit zu schaffen, müsse als gescheitert
betrachtet werden, weil es nur für eine kleine Minderheit tragfähig sei.27
Mit dem Individualismus gingen in diesen Jahren viele Zeitgenossen ins
Gericht, allen voran Othmar Spann, der auf die Verwandtschaft mit Libe-
ralismus, Kapitalismus und Marxismus hinwies.28 Für Rudolf Kinsky29 und
Benno Karpeles30 lag ebenfalls hier der Kern ihrer negativen Diagnose der
Zeit. Josef Eberle beschrieb als Begleiterscheinung des Individualismus eine
allzu optimistische Auffassung von der Menschennatur, die das organische
21 Zernatto, Die Wahrheit, 109; vgl. A. rauscher, Die soziale Natur, 30.
22 Die negative Konnotation, die dieser Begriff gerade in Deutschland hat, entstand im 19.
Jahrhundert, als sich in der politischen Theorie der Organismusbegriff durchsetzte; stoll-
berG-rilinGer, Der Staat, 202; stollberG-rilinGer, Staatsmaschine, 64.
23 NR 17. 5. 1924.
24 CS 16. 12. 1934 (R. schmitZ).
25 brandl, Kaiser, 415.
26 brandl, Kaiser, 175.
27 brandl, Kaiser, 172.
28 sPann, Der wahre Staat, 83 und 119–178; StL 1933, 354 (O. sPann); vgl. tálos, Herrschafts-
system (2013), 69.
29 KinsKy, Entwurf, 4.
30 KarPeles, Klassenkampf, 10.
4.1 DAS „ERBE“ VON 1789 183
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580