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Teilen verloren hat44, aber auch das, was das Volk zum Souverän gemacht
hat.45 Für den deutschen Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985) lag hier
der Ursprung des Staates als einer rein „politischen“ Gemeinschaft, wo das
menschliche Tun nicht mehr den ihm aufgrund der Weltordnung gebühren-
den Platz habe46; er leitete daraus ein Bekenntnis zum autoritären Führer-
prinzip ab.47 Selbst die den Ständestaat kritisch beurteilende Gertrud Fus-
senegger verband mit dem Gesellschaftsvertrag negative Gefühle: Für den
französischen Kleriker des späten 13. Jahrhunderts, in dessen Werk sie in
ihrer 1934 eingereichten Innsbrucker Dissertation Ansätze einer weltlichen
Soziologie ortete, habe sie, wie sie aus langjähriger Rückschau betonte, keine
Sympathie entwickeln können, weil er, eine Art Vorläufer Rousseaus, an-
ders als der von ihr verehrte Thomas von Aquin, die Hierarchie der Stände
„als nackte Gewalt denunziert“ habe.48 Für den CS verursachte der Gesell-
schaftsvertrag lediglich „ein Aggregat, aber kein organisches Ganzes“.49 Er
ließ daher Autoren zu Wort kommen, die dem Individualismus die soziale
Natur des Menschen entgegenstellten und die Erfüllung von Pflichten dem
Fordern von Rechten überordneten.50 Ihre Kritik galt der mit dem Schwin-
den des natürlichen Solidaritätsempfindens und der überindividuellen Ver-
ankerungen des Einzelnen einhergehenden Desintegration, die sich auf die
Gesamtgesellschaft auswirke, und einem Konzept von Pluralismus, das die
Legitimität unterschiedlicher Individualinteressen zur Norm machte und in
den sogenannten Bürgerrechten festschrieb.51
Entsprechend groß waren die Vorbehalte gegen das „souveräne Volk“: Im
NR wurde es als „die blöde Masse“ bezeichnet.52 Friedrich Funder teilte der-
lei Grundüberzeugungen, drückte sich aber gewählter aus.53 Nicht anders
die Sicht Kurt Schuschniggs: „Die Volksherrschaft ist niemals etwas anderes
gewesen, als eine blutleere Fiktion, verkleidet durch die innerlich unwahre
Fassade, die der Parlamentarismus des allgemeinen Wahlrechts aufgerich-
tet hatte.“54
44 stollberG-rilinGer, Der Staat, 41.
45 G. KlemPerer, Konzepte, 12–14; konzise Zusammenfassung dieser Gedanken bei ma-
Zohl-wallniG, Zeitenwende, 229–231.
46 otten, Die „Rettung“, 88; M. reiter, Philosophisches Unbehagen, 192–194.
47 meyer, Stand, 200.
48 fusseneGGer, Spiegelbild, 252 f.
49 CS 21. 4. 1935 (B. franZelin).
50 CS 24. 2. 1935 (C. nemeceK).
51 Göhler, Liberalismus, 212; maderthaner, Die Krise, 69; schreyer, Die „Nation“, 51–57.
52 NR 2. 12. 1922.
53 funder, Aufbruch, 14.
54 K. schuschniGG, Dreimal, 106.
4.1 DAS „ERBE“ VON 1789 185
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580