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rial“.67 Ähnlicher Begriffe bediente sich der Politologe Richard Löwenthal, in
dessen Augen sich das unmittelbare Gegenüber von freien Individuen und
Staatsapparat ebenfalls nicht bewährt hatte.68
In enge Verbindung mit dem Individualismus im Geist von 1789 wurde
der Liberalismus gebracht69, und in diesem Kontext wurde auch die Demo-
kratie zum Thema. Die meisten Kritiker des Liberalismus waren sich einig,
dass man diesen nicht mit Demokratie gleichsetzen könne.70 Als Ideal galt,
etwa im NR, die selbstverständliche Einordnung des Einzelnen in die Ge-
meinschaft.71 Andreas Posch kam im selben Blatt mit der Ansicht zu Wort,
richtig verstandene Demokratie, nicht die durch die Schlagworte von 1789 in
Misskredit geratene, bedeute Anerkennung der personalen Rechte des Men-
schen.72 Das Gegenteil sprach Richard Kerschagl an: Die „falsche Freiheits-
idee“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts habe die rechte Ordnung zerstört
und zur Atomisierung der Gesellschaft geführt, zum Kampf aller gegen alle;
der neue Glücksbegriff untergrabe bewährte Werte.73
Für Hermann Roeder widersprach das liberale Freiheitspostulat auch
dem Prinzip der Gleichheit, denn es nehme dem Einzelnen das Menschen-
recht der persönlichen Freiheit, um zu verhindern, dass er sich über das
Niveau der Masse hinausentwickle.74 Hugo Graf Lerchenfeld sah den Sinn
der Demokratie in der Betonung der wesensmäßigen Gleichheit der Men-
schen, nicht aber in der Annahme gleicher Fähigkeiten und Eigenschaften.75
Wilhelm Röpke bedauerte später aus der Rückschau, dass der Liberalismus
mitunter zu Unrecht für Dinge verantwortlich gemacht worden sei, die in
Wahrheit der Demokratie zuzuschreiben seien.76
Wilhelm Taucher beschrieb die Wesensmerkmale des Liberalismus in
Gestalt eines Vergleichs der Wirtschaftssysteme des Westens und des
Ostens. Beide schnitten in seiner Darstellung schlecht ab: Ersteres sei
beherrscht vom Gesetz des Tages; gehe es um die Zukunft, die die vor-
aussichtliche Lebenszeit des Individuums überschreite, sei keinerlei Op-
67 seiPel, Der Kampf, 48.
68 löwenthal, Faschismus [1935], 71.
69 Zu den Wurzeln und den Komponenten des Begriffs vgl. busshoff, Dollfuß-Regime, 171–
176 und 183–185.
70 Anders sPann, Der wahre Staat, 104; ablehnend Göhler, Liberalismus, 224.
71 NR 16. 10. 1926 (F. Keller).
72 NR 27. 11. 1926 (A. Posch); vgl. Zell, Ständische Staats-Gliederung, 3.
73 KerschaGl, Die Quadragesimo anno, 24; vgl. busshoff, Dollfuß-Regime, 179; senft, Im
Vorfeld, 62; StreitenberGer, Leitbild, 123 f.; von „Atomisierung“ sprach auch Franz Rehrl;
H. dachs, Franz Rehrl, 254 f.; vgl. tálos, Herrschaftssystem (2013), 76.
74 StL 1935, 59 (H. roeder).
75 NR 16. 4. 1927, 18. 6. 1927 (H. lerchenfeld); vgl. lacKner, Die Ideologie, 95 f.
76 habermann, Das Maß, 103.
4.1 DAS „ERBE“ VON 1789 187
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580