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ferbereitschaft gegeben. Demgegenüber überschätze der „Kollektivismus
des Ostens“ die Zukunft.77 Im CS konnte man lesen: „Der vorfaschistische
Staat war zu einem Museum der Schattenseiten des Liberalismus gewor-
den.“78
Richard Schmitz bedauerte die „Vermachtung der Wirtschaft“.79 Er ver-
urteilte den Manchester-Liberalismus80, der Bindungen außerwirtschaftli-
cher Natur, wie sie aus der christlichen Moral flössen, gelöst habe.81 Johann
Staud stellte fest, der Kapitalismus habe den Unternehmer zum Ausbeuter
gemacht und den Arbeiter „seelisch zermürbt“.82 Wilhelm Taucher fürch-
tete, die Überbetonung des Ökonomischen werde auf Kosten der menschli-
chen Freiheit gehen.83 Ähnliche Einschätzungen, die Max Schelers Deutung
des Kapitalismus als nicht nur ökonomisches System der Besitzverteilung,
sondern umfassendes, einzig auf funktionale Zusammenhänge achtendes
Lebens- und Kultursystem geschuldet waren84, wurden den Lesern des NR
vermittelt, dessen Schriftleiter Josef Eberle „Kapitalismus“ synonym mit
„Plutokratie“ verwendete und für einen Rückschritt der Kultur verantwort-
lich machte.85 In der SZ tat dies 1925 Anton Orel in mehreren mit „Kas-
sandra“ gezeichneten Artikeln.86
Derlei Äußerungen klassischer Kapitalismuskritik87 waren von Reflexio-
nen über die angeblich gemeinsame Grundlage von Liberalismus und Mar-
xismus begleitet: Richard Kerschagl mahnte, schrankenloser Wettbewerb,
ein Wirtschaftsleben, das in der Vernichtung des einen und im Wohlleben
des anderen bestehe, bedeute Klassenkampf.88 Für Anton Klotz hatte sich im
Bolschewismus „der Geist der westlichen Aufklärung“ mit der „Barbarei des
77 taucher, Gedanken, 14–18; vgl. auch ZaGlits, Bewegung, 6–12; funder, Aufbruch, 14;
reiss, Dr. Friedrich Funder, 168.
78 CS 16. 6. 1935 (R. brendel).
79 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 40.
80 Glass/serloth, Selbstverständnis, 39–45; Kriechbaumer, Dieses Österreich, 384; bei Josef
Dobretsberger begegnen hingegen manchesterliberale Gedanken neben solchen des christ-
lichen Solidarismus; binder, Stepan/Dobretsberger, 37 f.
81 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 42; R. schmitZ, Der Weg, 27.
82 staud, Berufsauffassung, 4; vgl. auch baumGartner, Arbeit und Erwerb, 12.
83 taucher, Gedanken, 25.
84 SZ 22. 7. 1928 (A. Kolnai ); vgl. böhr, Der Mensch, 212; Kiss, Max Schelers „Umsturz der
Werte“, 133 f.
85 NR 23. 7. 1922; 14. 3. 1925 (J. eberle); SZ 16. 9. 1928 (J. eberle).
86 SZ 1, IV; ePPel, Zwischen Kreuz, 19; hofer, Joseph Eberle, 147.
87 Kondylis, Konservativismus, 366 f.
88 KerschaGl, Die Quadragesimo anno, 25 f.; KerschaGl, Vom Widersinn, 44 f.; vgl. B. dachs,
Richard Kerschagl, 30 f. 4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE
LAGE188
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580