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nistische Auffassung, es fehle aber das für Gemeinschaften unverzichtbare
Einheitsprinzip.103 Die in liberalem Geist getätigte Suche nach Konstrukti-
onen, die die Gewalt vom Volk ausgehen lassen, hielten Wilhelm Taucher
und Lorenz Karall für etwas lediglich Äußerliches; in Wirklichkeit sei sie ein
Wesensmerkmal des modernen totalen Kollektivstaates.104
Die eben referierten Standpunkte sind Ausdruck eines einseitigen Ver-
ständnisses von Liberalismus, ja vermitteln den Eindruck der Suche nach
einem „Feindbild“, dessen Vorhandensein das eigene Tun legitimiert. Sie
verkannten nicht nur, dass der Liberalismus nicht grundsätzlich mit Re-
volution gleichzusetzen ist105, sondern auch dass er, jedenfalls in der Früh-
phase, keineswegs ein bedingungsloses Ja zur freien Marktwirtschaft be-
deutet hatte. Die konservativen Autoren übersahen jene liberalen Denker,
die ausdrücklich antikapitalistisch eingestellt waren und – nicht anders als
sie selbst – eine Mittelstandsgesellschaft mit breiter Vermögensstreuung
als Ziel vor Augen hatten. Ihr Blick richtete sich ausschließlich auf jene Li-
beralen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die politischen Liberalis-
mus mit Laissez-faire-Ökonomie gleichsetzten. Daher registrierten sie auch
nicht, dass der Liberalismus später wieder eine gewisse Bereitschaft zu sozi-
alinterventionistischer Ordnungspolitik zeigte.106
Vielen von ihnen muss aus kritischer Rückschau allerdings bescheinigt
werden, dass auch ihr Denken liberale Züge trug. In mancherlei Hinsicht
kann es geradezu als Vorstufe zum sogenannten Ordoliberalismus gelten,
der nach 1945 eine Synthese zwischen Marktwirtschaft und sozialer Ver-
antwortung zu erreichen versuchte und die Wirtschaft mit anderen Berei-
chen des Lebens in Verbindung brachte. Die Anfänge dieser Schule, die ih-
rerseits aus der kritischen Verarbeitung von Erfahrungen aus der Zeit nach
dem Ersten Weltkrieg gereift war, lagen in den späten zwanziger Jahren.107
Ihre Begründer forderten, negative soziale Folgen einer ungünstigen Markt-
verteilung sollten durch eine entsprechende Ordnung politisch korrigiert
werden: Um die Konkurrenz des Marktes dauerhaft zu erhalten, sei es not-
wendig, dass der Staat zum Garanten der Rahmenbedingungen, des ordo,
werde.108
Die in der Forschungsliteratur auch übliche, mit „Ordoliberalismus“ quasi
synonym verwendete Bezeichnung „Neoliberalismus“109 wird in vorliegender
103 v. hildebrand, Memoiren, 257.
104 taucher, Gedanken, 53; wurm, Dr. Lorenz Karall, 222.
105 lanGewiesche, Liberalismus, 23.
106 lanGewiesche, Liberalismus, 31–35.
107 mooser, Liberalismus, 141 f.
108 Goldschmidt, Walter Eucken, 153; mooser, Liberalismus, 143; voGt, „Liberalität“, 151 f.
109 So – im Gegensatz zu anderen – GerKen/renner, Die ordnungspolitische Konzeption, 37.
4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE
LAGE190
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580