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1933 erklärte er in Linz: „Die Demokratie gleicht heute einer verachteten
Dirne, und je dümmer der Lausbub ist, desto mehr glaubt er das Recht zu
haben, der Demokratie ins Angesicht zu spucken.“192 Carl Vaugoin nannte
den Anspruch des Volks auf die Macht „eine Überheblichkeit sonderglei-
chen“.193 Die Macht der CSP, deren Obmann er seit 1930 war, leitete er von
Gott ab. An der bestehenden Verfassung bemängelte er vor allem, „dass
in keinem der Artikel etwas von unserem Herrgott drinnensteht“.194 Fast
identische Äußerungen liegen von Richard Schmitz195 und Anton Klotz196
vor. Andere Zeitgenossen sprachen nachgerade von Gottesgnadentum als
Legitimation von Herrschaft, etwa Kurt Schuschniggs Vertrauter Johannes
Hollnsteiner.197 Einzig Ulrich Ilg befürwortete den demokratischen Staat,
weil dieser am ehesten das Prinzip der Gerechtigkeit erfülle und dem Ge-
meinwohl diene; allerdings handle der vom Volk bestellte Politiker im Auf-
trag Gottes.198
August M. Knoll sprach das Problem der Repräsentation an: Es sei das
„Elend des Parlamentarismus“, dass er das Politische vom Sozialen trenne,
weil der Abgeordnete die komplexe Wirklichkeit derer, die er vertritt, nicht
kenne199; in Wahrheit sei das demokratische Repräsentationsrecht pseudo-
demokratisch und lasse die Demokratie zur Oligarchie entarten.200
Seipel legte der parlamentarischen Demokratie den Vorrang politischer
Überlegungen vor sachlichen zur Last. Die Parteipolitiker nannte er eine
„Elitekaste“, der er die „neue Aristokratie der Mandatare“ gegenüber stell-
te.201 Für Kurt Schuschnigg lag einer der entscheidenden Mängel des Parla-
mentarismus in der fehlenden Sachkompetenz der Gewählten.202 Es hätte
allerdings dem gepflegten Stil des Kanzlers widersprochen, die bestehenden
Parlamente „Schwatzbuden“ zu nennen, wovor sich August Zell nicht scheu-
te.203 Anton Klotz bemängelte an der „missverstandene(n) Demokratie“, sie
habe die „Auslese der Tüchtigsten“ verheißen, aber leider sei „Tüchtigkeit
192 Zit. nach wohnout, Verfassungstheorie, 162.
193 Kriechbaumer, Dieses Österreich, 441; Kriechbaumer, Front, 159 f.
194 staudinGer, Bemühungen, 348.
195 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 15 f.
196 KlotZ, Sturm, 39.
197 buchmayr, Der Priester, 57 und 153; zu den Wurzeln dieses Denkens im 19. Jahrhundert
vgl. hanisch/urbanitsch, Prägung, 63 f.
198 ilG, Uns alle, 9 f.
199 Knoll, Das Ringen, 13.
200 mayer-tasch, Korporativismus, 68– 72.
201 rennhofer, Ignaz Seipel, 707; vgl. schrecKer, Für ein Ständehaus, 9.
202 K. schuschniGG, Dreimal, 111.
203 Zell, Ständische Staats-Gliederung, 18. 4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE
LAGE198
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580