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hohen Stellenwert einräumte, betonte er in seinem philosophischen Gesamt-
entwurf ausdrücklich den Vorrang des Geistes.270
Guido Zernatto war der Gedanke wichtig, dass die Seele des Menschen
viel mehr sei als eine bloße „Funktion des Körpers“271 oder „ein rein na-
turwissenschaftliches Phänomen“.272 Für Friedrich von Weichs war es das
Kennzeichnen einer „vergangenen edleren Zeit“, dass der Geist auch im Be-
reich gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Ordnungen „über die ohnmäch-
tige Stofflichkeit“ gesiegt habe.273 Mit dieser Überzeugung nahm er eine
Erkenntnis moderner Soziologie vorweg, der zufolge für die zunehmende Ge-
schlossenheit der Oberschichten in der Neuzeit Disziplinierung und Selbst-
kontrolle maßgeblich gewesen seien, Eigenschaften, die auch das Distinkti-
onsmerkmal gegenüber den unteren Ständen bildeten.274
Auf ähnlichem weltanschaulichen Substrat entwickelte Franz Brandl
seine politischen Überzeugungen: „Wehe den Regierenden, die sich von den
Leidenschaften der Regierten beherrschen lassen, wehe den Regierten, die
sich von der Leidenschaft ihrer Führer verblenden lassen.“275 Im österrei-
chischen Ständestaat, so Paul Thun-Hohenstein, habe diese Gefahr aber
nicht bestanden, denn nach den unheilvollen Auswirkungen des Nationalitä-
tenkampfs im 19. Jahrhundert, die der Humanität abträglich gewesen seien,
rage Österreich nunmehr (sc. 1937, E. K.) „als eine Insel der europäischen
Kultur aus dem Meer der entfesselten politischen Leidenschaften“.276
Für eine in noch höherem Grad ein Gegenbild zum Geist darstellende
Form der Übermacht des Biologischen steht Franz Georg Strafellas277 Ab-
handlung Der sozial Primitive, die auf Theorien des italienischen Arztes Ce-
sare Lombroso Bezug nahm.278 Diesem zufolge gebe es den Typus des ange-
borenen Verbrechers, der zwischen dem Geisteskranken und dem Primitiven
stehe. Nicht die Tat an sich sei somit Gegenstand des Strafrechts, sondern
der Täter. Mit derlei extremen Ansichten weit jenseits des weltanschau-
lich-ethischen Horizonts der Mehrzahl der Mandatare des Ständestaates
270 becher, Der Blick, 124; Jütte, Zwischen Ständestaat und Austrofaschismus, 261; sieGfried,
Universalismus, 210.
271 Zernatto, Vom Wesen, 152.
272 Zernatto, Vom Wesen, 118.
273 v. weichs, Der Weg, 5.
274 schwinn, Ständische Verhältnisse, 80 f.
275 brandl, Ein Reich, 156.
276 thun-hohenstein, Österreichische Lebensform, 22 f.
277 Bekannter ist der Autor durch die Verwicklung in die sogenannte Phönix-Affäre, einen
spektakulären Korruptionsfall im Versicherungsbereich; vgl. acKerl, Phönix-Skandal, pas-
sim; Anita KorP, Der Aufstieg, 104.
278 Zum Kontext vgl. Payne, Geschichte, 42. 5. DER MENSCH IST
PERSON238
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580