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stehend, betonte Strafella, dass auch Verbrecher sich zusammenschlössen
und „mit eigenen Klassenbegriffen, eigenen Klassenvorurteilen und eigenen
Ehr- und Rechtsbegriffen“ operierten.279
Adolf Lenz distanzierte sich von dieser Auffassung: Lombrosos Namen
ausdrücklich nennend, forderte der Grazer Strafrechtler, die Kriminalbio-
logie müsse die Tat und nicht den Täter zum Ausgangspunkt machen.280
Andere Stellen seines Lehrbuchs rücken gleichwohl den Täter in den Mit-
telpunkt, wobei Umwelteinflüsse betont werden. Das Verbrechen bezeich-
nete Lenz als „Aktualisierung einer körperlich-seelischen Potentialität der
Persönlichkeit unter dem Einfluss der Umwelt“. Die Persönlichkeit verstand
er als „Ganzheit von ererbten und erworbenen Dispositionen und Struktu-
ren“.281 Er stellte sie als ein besonderes Ganzes mit eigenen Gesetzen dem
Weltganzen gegenüber. Obwohl jedes Lebewesen „als Mikrokosmos im Ma-
krokosmos der Welt“ stehe, habe es seine Besonderheit bewahrt, die Einheit
von Subjekt und Objekt trete in verschiedenen Graden in Erscheinung. Er
wollte im Individuum nicht einfach das Naturgesetz wiederfinden, sondern
suchte das Schöpferische in ihm, den in der Natur des Menschen liegenden
Hang zur Absonderung von der Umwelt. Hierbei nahm er eine Stufenfolge
an, die bei den elementaren Leistungen des Innenlebens beginne; je höher
ein Mensch aufsteige, desto mehr Gewicht erlange die Individualgesetz-
lichkeit gegenüber der allgemeinen. Lenz sprach von „Individuation des Le-
bens“, die bei der „gestalteten“ Persönlichkeit in subtilerer Weise erfolge als
bei der „ungestalteten“.282 Der „Unterbau“ des physiologischen Geschehens
erhalte durch die fortschreitende Entwicklung der Kultur einen seelischen,
immer individuelleren „Überbau“. Durch die wechselseitige Durchdringung
von Natur und Kultur würden die Individuen in unendlichen Varianten ge-
schaffen.283
Bei der Beschreibung der menschlichen Anlagen bediente sich Lenz des
Begriffs der Neigung, für ihn „eine Anlage zu körperlich-seelischem Wirken
bestimmter Art“. So werde das Leben aus dem bloßen Zufall des einmaligen
Reizes herausgehoben, der Lebenslauf zum Schicksal gestaltet.284 Er richtete
sein Augenmerk auf die Korrelationen verschiedener Neigungen innerhalb
der Ganzheit der Persönlichkeit: Optimale wechselseitige Abstimmung be-
deute Harmonie. Er wusste aber, dass dieses Ideal nur im Individuum mit
279 strafella, Der sozial Primitive, 18.
280 lenZ, Grundriss, 7 f.
281 lenZ, Grundriss, Vorwort.
282 lenZ, Grundriss, 1–5.
283 lenZ, Grundriss, 9.
284 lenZ, Grundriss, 32.
5.4 LEBEN UND GEIST 239
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580