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des Österreichers“, der seinem Wesen nach ein Denker sei.311 Mit diesem
Gedanken verwandt ist Skepsis gegen die Mathematisierbarkeit aller Ver-
hältnisse des Daseins und gegen strenge Erfahrungswissenschaft.312 Für
Friedrich Funder liege einer solchen „kahle Intelligenz“ – so zitierte er aus
1933 geäußerten Gedanken Oswald Spenglers – zugrunde, ein „Geist ohne
Blut, der alles kritisch zernagt“ (allerdings der „Geist des Tages“313), für Her-
bert Stourzh das, was „Halbgebildete“314 kennzeichne. Dem Historiker Franz
Kolb bescheinigte ein an strengen Regeln der Kunst orientierter Biograph,
dass er trotz professioneller Methodik nicht nur „mit kaltem Verstand“ gear-
beitet habe.315
Friedrich Schiller hätte einen solchen Menschen als „Brotgelehrten“ be-
zeichnet. Der Dichter, der auch als Historiker hervorgetreten war, wurde
1905, hundert Jahre nach seinem Tod, zum Gegenstand eines Vortrags von
Oswald Redlich in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften.
Thema war die Jenaer Antrittsvorlesung als Auseinandersetzung mit der
rein verstandesmäßigen Aufklärung einerseits und der erwachenden gene-
tischen Denkweise andererseits. Nicht nur an äußeren Fakten, sondern an
deren geistigen Hintergründen interessiert, lobte Redlich Schillers klassi-
sche Dramen als Vollendung von dessen historischer Arbeit: Sie seien nicht
dramatisierte Geschichte, sondern historische Wahrheit, die sich als eine
„innere“ konkretisiere.316 In ähnlicher Weise äußerte sich dieser professi-
onelle Vertreter der Zunft Jahre später über Franz Grillparzer, der man-
ches Ergebnis „harter“ Wissenschaft intuitiv vorweg genommen habe: „Er
hat geschaut, was die Historiker erst nach ihm erforscht haben.“317 Im König
Ottokar und im Bruderzwist habe er bewiesen, dass Historiographie und
Dichtung keineswegs unversöhnliche Gegensätze seien. Auch der Historiker
brauche – über das kritische Instrumentarium hinaus – Kenntnis der Men-
schen, ihrer Seele, ihrer Leidenschaften, der Bedingtheit des menschlichen
Wesens durch die Natur. 1901 zitierte er Grillparzer mit dem Satz: „Der Ge-
schichtsschreiber weiß wenig, der Dichter aber muss alles wissen.“318
Andere Denker hoben den Wert der geistigen Arbeit im Allgemeinen her-
311 thun-hohenstein, Österreichische Lebensform, 42.
312 becher, Der Blick, 115; Kaltenbrunner, Europa, 386; resele, Ständestaatskonzeption, 12 f.
313 funder, Vom Gestern, 169.
314 Diesen Begriff verwendete Herbert Stourzh in seiner faschismuskritischen Haltung; H.
stourZh, Gegen den Strom, passim.
315 Kramer, Franz Kolb, 575.
316 santifaller, Oswald Redlich, 164–167.
317 redlich, Grillparzer, 39.
318 Zit. nach santifaller, Oswald Redlich, 166.
5.4 LEBEN UND GEIST 243
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580