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einstigen Lehrer340, der als das höchste Ziel eines katholischen Akademikers
„die Aristokratie des Geistes und Herzens in einer Zeit der Umwertung al-
ler Werte“ bezeichnet habe.341 August Zell mahnte, aller wahre Fortschritt
beruhe darauf, „dass die reinen Denker [...] von den führenden Praktikern
rechtzeitig verstanden werden, dass diese die rettenden Zukunftsgedanken
jener rechtzeitig in die Tat umsetzen“.342 Max Scheler erwartete von den Eli-
ten, dass sie die Macht mit der Bildung vereinigten; die Demokratie hielt er
für grundsätzlich nicht geeignet, echte Bildung zu fördern.343
Auch die Kirche setzte in die Intellektuellen hohe Erwartungen.344 Ignaz
Seipel forderte von den Akademikern, sie sollten sich nicht abschließen, son-
dern sich über alle Berufsgruppen und Stände verteilen, und hob ihren Auf-
trag als politische Führer hervor.345 Johannes Hollnsteiner widmete sich mit
großem Einsatz dem Aufbau einer Katholischen Akademikergemeinschaft
als Diskussionsforum für Zeitfragen.346 Johannes Messner sah 1933, als sich
die Wirtschaftskrise auch auf das katholische Buch- und Pressewesen aus-
zuwirken begann, eine „Bedrohung der geistigen Schlagkraft der Katholi-
ken“ im Raum stehen, denn Kulturpolitik beruhe auf geistigen Kräften und
lebe von fachwissenschaftlichen Publikationen, die gegenüber dem für breite
Schichten konzipierten Medium Film nicht zurückstehen dürften.347
Der in Österreich in der Zwischenkriegszeit bestehende Wunsch, die Re-
gierung möge in die Hände von „Geistesaristokraten“ gelegt werden348, ent-
sprang dem Bedürfnis nach „Entpolitisierung der Politik“. Kurt Schusch-
nigg, ein feinfühliger Intellektueller, der sich unter Menschen mit höherer
Bildung besonders wohl fühlte349 – dies schätzte er auch an Ignaz Seipel350 –,
war ein Anwalt humanistisch-christlicher Tradition. Mit Blick auf die Ent-
wicklung des eigenen Sohnes erwähnte er die akademische Tradition seiner
Familie, fürchtete allerdings auch, angesichts der aktuellen – 1942 – Domi-
nanz des Praktischen werde es Doktoren nicht mehr lange geben: An ihre
340 reitmair, Msgr. Prof. Dr. Franz Kolb, 17.
341 Kolb, Tirolia, 70; Alois Dienstleder, Mitglied der KV-Korporation Winfridia, setzte eben-
falls höchste Erwartungen in die Bildungseliten; binder, Politischer Katholizismus, 74 f.;
zum KV und seiner Identifikation mit dem Ständestaat vgl. Gehler, Hochschule, 29; stim-
mer, Eliten, 514.
342 Zell, Ständische Staats-Gliederung, 30.
343 fröhlich, Der Bürger, 122–125.
344 böcK, Öffentlichkeitsarbeit, 30; G. hartmann, Eliten, 226 f.
345 rennhofer, Ignaz Seipel, 374.
346 buchmayr, Der Priester, 41–44 und 105.
347 SZ 5. 3. 1933 (J. messner).
348 streitenberGer, Leitbild, 215.
349 hoPfGartner, Schuschnigg, 12; Kindermann, Österreich, 254.
350 hoPfGartner, Schuschnigg, 49; vgl. GoldinGer, Schuschnigg, 219.
5. DER MENSCH IST
PERSON246
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580