Seite - 248 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 248 -
Text der Seite - 248 -
hinderlich.362 Ungeachtet aller Vorbehalte gegen die Demokratie mit ihren
unzulänglichen Kompromissen waren ihm autoritäre Stilformen im Grunde
fremd:363 „Organisation von Geist und Recht in letzten und entscheidenden
Dingen“ sei wichtiger als die – allerdings gleichwohl notwendige – „Organi-
sation von Macht und Gewalt“.364 Nur die freie geistige und moralische Per-
sönlichkeit könne mit anderen verkehren. Dies gelte auch für die Politik:
„Unter geistigen Menschen gibt es kein Problem, über das sich nicht ruhig
und sachlich debattieren ließe, falls der Wille zu einer Form geistigen Nach-
barrechts [...] besteht.“365
Richard Schmitz hielt es für wichtig, kulturelle Interessen vom Fachbil-
dungswesen zu unterscheiden.366 Mit Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi
bedauerte er, dass die Universitäten „aus Quellen wahrer Bildung zu Fach-
kursen für Spezialisten geworden sind“ und meist nur „Halbgebildete“ her-
vorbrächten.367 Hier sah der auch in Deutschland und Österreich bekannte
spanische Kulturkritiker José Ortega y Gasset eine große Gefahr: Nehme die
Spezialisierung überhand, sinke der Diener der Wissenschaft auf die Ebene
des Massenmenschen ab, halte sich aber gleichwohl für kompetent.368
Demselben Gedanken widmete Richard Meister breiten Raum: „Der geis-
tig Arbeitende […] kann sich nur dann in seinem Tun gesichert und berech-
tigt fühlen, wenn er sich seiner Stellung und Bedeutung in dem Ganzen,
dem er eingegliedert ist, bewusst bleibt. Das Prinzip strenger Arbeitsteilung
ist auf das Gebiet des geistig-kulturellen Schaffens nicht übertragbar.“369
All die eben zitierten Einschätzungen sind nicht zuletzt als Vorwegnahme
konservativ-liberaler Standpunkte von Interesse: Wilhelm Röpke machte
auf die ethischen Gefahren der zu weit gehenden Spezialisierung aufmerk-
sam; gerade von den Akademikern erwartete er einen sehr weiten Hori-
zont.370
In der politischen Wirklichkeit der dreißiger Jahre erfuhr die geistige
Arbeit indes keine angemessene Wertschätzung.371 Rudolf Henz merkte kri-
tisch an, die geistig bzw. schöpferisch Tätigen spielten in der Politik eine
362 hoPfGartner, Schuschnigg, 121.
363 GoldinGer, Schuschnigg, 225.
364 CS 17. 6. 1934 (K. schuschniGG).
365 CS 16. 12. 1934 (K. schuschniGG).
366 PMR VIII/6, Prot. 926/10 (2. 3. 1934), 62.
367 coudenhove-KalerGi, Totaler Mensch, 132.
368 SZ 24. 4. 1932 (O. KnaPP).
369 meister, Bildungswerte, 23.
370 habermann, Das Maß, 93 und 193.
371 S. amann, Kulturpolitische Aspekte, 151. 5. DER MENSCH IST
PERSON248
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580