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Klasse, in der es aus diesem Grund zu Spannungen gekommen war: Das
Kind habe davor gewarnt, Weltanschauliches in den Unterricht einfließen
zu lassen.436
In der bildungsoptimistischen Hauptschuldirektorin hatte Richard Meis-
ter in seinem Widerstand gegen die sozialdemokratische Schulpolitik437 also
keine Weggefährtin. Umso überzeugter unterstützte ihn hierin Richard
Schmitz, einer der konsequentesten Gegner von Otto Glöckels Reform-
schule:438 Schmitz hatte bereits 1926 Richtlinien verfasst, denen zufolge die
Menschen für den Dienst der Gemeinschaften, denen sie angehören, erzo-
gen werden sollten.439 1928 hatte er die „organische Weiterbildung unseres
Schulwesens ohne revolutionären Bruch“ gefordert, mit Abstufungen je nach
dem Bildungsbedürfnis der verschiedenen Berufsstände und der Eigenart
der verschiedenen Gebiete; über Meister hinausgehend, wünschte er außer-
dem eine konfessionelle Schule.440 Auch Salomon Friedrich Frankfurter er-
füllten die im österreichischen Bildungswesen nach 1919 unternommenen
sozialdemokratischen Reformbemühungen mit Sorge; er fürchtete, dass im
Übereifer das „organisch Gewordene“ zu wenig beachtet werde und „grund-
stürzende Änderungen“ eintreten würden.441
Wie wichtig die bürgerliche Bildungsdoktrin in Hinblick auf die Abwehr
des Nationalsozialismus war, ja dass sie als nachhaltig angelegte Vorbeu-
gung gegen diesen zu verstehen ist, zeigt eine 1931 im NR erschienene Kri-
tik an der nationalsozialistischen Bildungspolitik, deren Bestreben es sei,
eine mögliche „Überfütterung mit Allgemeinbildung“ zu vermeiden und
„überflüssiges“ Wissen abzubauen; auch dass das Sitzenbleiben möglichst
selten vorkommen solle, wurde kritisch angesprochen.442 Bitterkeit spricht
aus den Worten, die Kurt Schuschnigg für diese Politik fand: „1-er in Schrei-
ben und Rechnen“ würden, schrieb er 1942, „heutzutage eher kompromittie-
ren. […] Wer im schulmäßigen Denken nicht ganz ungenügend bekommt,
der wird nie nach Walhall kommen.“443 Hier drängt sich der Vergleich mit
dem italienischen Faschismus auf, den ebenfalls Misstrauen gegenüber in-
tellektuellen Eliten kennzeichnete.444
436 rada, Proletariermädchen, 49.
437 Vgl. allgemein schretter, Das ideologische Nahverhältnis, 56–59.
438 Zu seinen Maßnahmen als Unterrichtsminister vgl. erben, Schule, 19 f.; Gober, Schule,
165.
439 erben, Schule, 92.
440 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 7 f., 59; Kriechbaumer, Dieses Österreich, 346 f.
441 franKfurter, Österreichs Bildungswesen, 12 f.
442 NR 25. 4. 1931, 12. 9. 1931 (Z. fischer ofm).
443 binder/H. schuschniGG, „Sofort vernichten“, 198 f.
444 scholZ, Italienischer Faschismus, 26 f.
5.4 LEBEN UND GEIST 255
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580