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„zum Bewusstsein ihrer Individualität“ zu verhelfen und sie „zum Nach-
denken über sich selbst zu erziehen“: Dies sei die vornehmste Aufgabe eines
Lehrers, der überdies darauf hinarbeiten müsse, die „Abkehr von der kind-
lich naiven Einstellung, die alles Gegebene als selbstverständlich und unab-
änderlich hinnimmt und Meinungen und Grundsätze der Umgebung blind
anerkennt“510, herbeizuführen. Radas Arbeit, in der quantifizierende Metho-
den zur Anwendung kommen und die über weite Strecken hin geradezu de-
terministisch anmutet, ist nicht zuletzt als Beleg dafür von Interesse, dass
der Begriff „Individualität“ nicht nur im christlichsozial-konservativen La-
ger, sondern auch in Kreisen, die, wie Rada in ihrem Bildungsoptimismus,
dem sozialen Wandel sehr offen gegenüberstanden, eine zentrale, allerdings
teilweise dem Individualismus nahe kommende Denkkategorie darstellte.511
In einer Gemeinschaft arbeiten auch Wissenschafter512, in einer lebenden
gleichermaßen wie in einer die Generationen überdauernden. Karl Lug-
mayer richtete an sie einen ernsthaften Appell: „Die Größe und Fülle der
Aufgaben sollte jeden Forscher und Lehrer eindringlich mahnen, sich vor
dem schlimmsten Hemmnis im Fortschritt der Erkenntnis zu hüten, vor der
Eitelkeit. Jeder Lehrer und Forscher ist doch so sehr von den Geschlech-
tern seiner Vorgänger, von der Zusammenarbeit der gesamten lebenden
wissenschaftlichen Mitwelt abhängig, dass ihm Bescheidenheit förmlich
aufgedrängt wird. Selbst die größte Entdeckung, die einem Forscher gelin-
gen kann, ist immer nur ein ganz winziges Glied einer langen, langen Kette
erkenntnismäßiger Arbeit unzähliger Vorfahren. [...] Zum Betrieb jeder Wis-
senschaft gehört deshalb auch eine bestimmte sittliche Haltung, Ernst und
Ehrfurcht.“513 In ähnlicher Weise hatte sich seit 1919 auch Oswald Redlich
wiederholt geäußert, indem er sich gegen schrankenlosen Subjektivismus in
Kunst und Wissenschaft verwahrte514 und den Forschern eine „Ethik der ei-
genen persönlichen Lebensführung“, gepaart mit Ehrfurcht vor der Arbeit
anderer, nahelegte.515
Eine Gefühlsbindung besonderer Art, als deren Voraussetzung Philipp
Bugelnig Selbstlosigkeit nannte516, so wieder Karl Lugmayer, sei die Freund-
schaft, die ihrerseits als Bindemittel für Gemeinschaften anderer Art dienen
könne. Wichtig sei vor allem die Gesinnungsfreundschaft oder Gesinnungs-
gemeinschaft: Ihre Angehörigen trügen gewisse Bewusstseinskonstanten in
510 rada, Proletariermädchen, 75.
511 rada, Proletariermädchen, 75.
512 K. luGmayer, Sein II, 349 f.
513 K. luGmayer, Sein II, 360.
514 santifaller, Oswald Redlich, 122.
515 Zit. nach santifaller, Oswald Redlich, 184.
516 buGelniG, Der Ständestaat, 43.
5.5 PERSÖNLICHKEIT UND GEMEINSCHAFT 263
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580