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Der Wert der Tradition und der „Modernitätsschock“
Selbstredend galt auch der Tradition großer Respekt – umso mehr, als man
diesen Wert in Gefahr wähnte. Gemäß dem Verständnis von Karl Jaspers
(„Wir sind Mensch nicht durch Vererbung, sondern erst durch den Gehalt
einer Tradition.“584) wurde sie als eigentliche Voraussetzung für menschliche
Sozialisation und als Wesensmerkmal der Kultur gehandelt. Hans-Georg
Gadamer deutete Tradition als eine Form von Autorität.585
Oswald Spengler verschrieb sich einer breit angelegten, ins 18. Jahrhun-
dert zurückreichenden Zivilisationskritik586 und bedauerte den Verlust der
„Ehrfurcht vor dem Überlieferten und Gewachsenen“.587 In seinem 1924–
1936 entstandenen Buch Der Mensch und die Technik vertrat er den Stand-
punkt, dass der Höhepunkt der technischen Entwicklung nunmehr erreicht
sei; gehe dieser Prozess noch weiter, steuere die westliche Kultur einer „Tra-
gödie“ zu.588 Die pejorative Konnotation des Wortes „Zivilisation“ leitete er
aus der Tatsache ab, dass die dadurch bezeichneten Inhalte von breiten, von
unten emporstrebenden Schichten kämen, die auf nichts anderes als auf
Erfolg, Prestige und Ansehen bedacht seien.589 Karl Mannheim begründete
seine Vorbehalte gegen das naturwissenschaftlich-exakte Denken damit,
dass dieses vom sozialen Körper abgelöst sei und, anders als das historische,
nur seiner eigenen Dynamik folge.590 Nur wenige Jahre später hatten sich
ähnliche Einsichten auch in der völlig anderen Denktradition der Frankfur-
ter Schule durchgesetzt.591 Kaum überraschend sind sie hingegen aus dem
Munde von Rudolf Henz: Er ortete die „Fortschrittsfanatiker“ insbesondere
in den Reihen der Sozialdemokraten, die schon vor dem Ersten Weltkrieg
„die Hochschulen und noch mehr die Volkshochschulen beherrschten“.592
Den Fortschritt selbst nannte der Dichter einen „Mythos“; die „Zivilisa-
tionsfanatiker“, die sich für „mechanisiertes Denken“ begeisterten, bereite-
ten ihm Unbehagen.593 Gleich Ernst Wiechert, dem Verfasser des von aris-
tokratischem Geist durchdrungenen Romans Das einfache Leben (1939)594,
584 Zit. nach LK, 567 (K. motschmann).
585 Gadamer, Hermeneutik I, 285.
586 boterman, Oswald Spengler, 140–148.
587 Zit. nach boterman, Oswald Spengler, 166 f.
588 boterman, Oswald Spengler, 351–356.
589 boterman, Oswald Spengler, 149,
590 mannheim, Konservatismus, 66 f.
591 horKheimer/adorno, Dialektik, 3.
592 henZ, Fügung, 28; vgl. vocelKa, Geschichte, 279–282.
593 henZ, Mysterium, 215 f.
594 Zu möglichen Bezügen auf deutsche Ansprüche auf den im Zweiten Weltkrieg umkämpften
5.6 KULTIVIERUNG PERSONALER WERTE 271
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580