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evozierte er teilweise ein Goldenes Zeitalter.595 Franz Karl Ginzkey setzte
dem technischen Zeitalter den Menschen der Stille entgegen und bedauerte
die „ungeheure Selbstüberschätzung“ des modernen Menschen; die Phrase
von dessen Gottähnlichkeit hemme den inneren Fortschritt.596 Ebenso we-
nig teilte Josef Marx den „Fortschrittsoptimismus der Nachkriegszeit“.597
Die genannten Autoren vertraten durch ihr „Leiden an der Modernisierung“
den Standpunkt der Agrarromantiker gleichermaßen wie jenen der akade-
mischen Kulturkritiker.598
Die österreichischen Bischöfe sprachen 1918 vom „Kulturstolz des derzei-
tigen Geschlechtes, das [...] sich eingebildet hatte, Gott und seine Gebote
entbehren [...] zu können [...]. Eine gottentfremdete Wissenschaft glaubte
an unaufhaltsamen Fortschritt [...]; die Technik [...] träumte in ihrem Rei-
che der unbegrenzten Möglichkeiten von einer Art Allmacht [...]. Dieser un-
geahnte irdische Aufstieg hat im modernen Menschen den Wahn der […]
Selbstherrlichkeit gegenüber Gott [...] gefördert.“599 Ähnlicher Formulierun-
gen bediente sich Engelbert Dollfuß.600
Richard Schmitz, einer der profiliertesten Vertreter der CSP, nannte de-
ren Mitglieder Konservative, die „das wertvolle Erbe der Väter hochschätzen
und gegen mutwillige Zerstörung verteidigen, zugleich aber gediegenen Neu-
erungen verständnisvoll entgegenkommen“.601 Alois Schönburg-Hartenstein
stand bei seinen Zeitgenossen im Ruf, vom Alten und Überlieferten das neh-
men zu wollen, was gut und erhaltenswert sei, sich aber auch dem Neuen
nicht zu verschließen.602 Guido Zernatto erklärte, der Fortschritt dürfe sich
von den „Kulturerfolgen der Vergangenheit“ nicht lösen.603
Leopold von Andrian leitete aus Christi Auftrag Estote perfecti! zwar eine
positive Bewertung des Fortschritts ab, wollte diesen aber in einem subtile-
ren Sinn verstanden wissen „als jener, in dem er vom neuheidnisch zivilisier-
ten Pöbel der Gegenwart erfasst wird. Dieser glaubt die Vorgeschichte der
Menschheit in die Formel ‚mechanische Evolution vom unbelebten bis zum
denkenden Wesen’ zusammenpressen zu können, und setzt dem menschli-
Grenzraum im Osten und zur Kriegsmetaphorik in diesem Werk vgl. strobel, Aristokrati-
scher Rückzug, 371–381.
595 suchy, Utopie, 240.
596 SZ 7. 9. 1930 (F. K. GinZKey).
597 marx, Betrachtungen, 364.
598 P. nolte, Ständische Ordnung, 236.
599 Knoll, Piffl, 21 f.
600 Eva dollfuss, Mein Vater, 148.
601 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 13.
602 holub, Fürst Alois Schönburg-Hartenstein, 134.
603 Zernatto, Vom Wesen, 140. 5. DER MENSCH IST
PERSON272
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580