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gewaltige Umstellung der Menschen in den sittlichen Anschauungen“ ein;
das christliche Sittengesetz müsse zu einem der wichtigsten Verfassungs-
gesetze der neuen Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung werden, „ohne
dessen Wirksamkeit jede wie immer geartete Zuständereform wirkungs-
los ist“.666 Seipel hatte in einer am 14. Februar 1924 gehaltenen, von Paul
Thun-Hohenstein ausdrücklich gelobten667 Rede zum Thema Die geistige
Arbeit am Wiederaufbau gefordert, mit der wirtschaftlichen Sanierung
müsse ein geistig-moralischer Wiederaufbau einhergehen.668 Aus seinem
Munde stammt auch die einprägsame, von mehreren Mandataren übernom-
mene669 Metapher „Sanierung der Seelen“.670
Hans Karl Zeßner-Spitzenberg hielt den Problemen bäuerlichen Familien-
lebens im späten 19. Jahrhundert, mit denen er als Wirtschaftswissenschaf-
ter vertraut war, die auf ungeschriebenen Gesetzen beruhende Ordnung des
Ganzen Hauses entgegen.671 Den Historiker Franz Kolb faszinierten die in
der bäuerlichen Welt in früheren Zeiten verbreitete germanischrechtliche
Auffassung, dass man Recht nicht machen, sondern nur weisen könne, und
die Forderung, Recht müsse billig und sittlich sein und mit der natürlichen
Weltordnung übereinstimmen; dass die Bauern im 16. Jahrhundert gegen
das „konstruierte Recht“672 Widerstand leisteten, stieß auf sein volles Ver-
ständnis: Das römische Recht sei als „etwas Wesensfremdes, nicht organisch
Angepasstes, sondern als etwas Aufgepfropftes empfunden und daher schon
gefühlsmäßig abgelehnt“ worden.673 Von Missachtung „organischer Rechts-
entwicklung“ sprach Kolb in einem die Zeit des Nikolaus von Kues betref-
fenden historischen Rückblick, der dessen Schwierigkeiten als Brixner Bi-
schof erklären sollte. Der Philosoph war für ihn Inbegriff einer geistlichen
Gewalt, „welche die Überlieferung des Landes missachtete“.674 Ähnlich dach-
ten Karl Lugmayer, der als negative Folge des gelehrten Rechts ein stärke-
res Vordringen unbeschränkter, nicht mehr an das Land gebundener Herr-
scher sah675, und Jakob Stoiber, dem zufolge im gelehrten Recht der Sinn
für personale Bindungen fehlte; dessen Rezeption am Ende des Mittelalters
666 struber, Österreichs Wiederaufbau, 22.
667 thun-hohenstein, Österreichische Lebensform, 23.
668 rennhofer, Ignaz Seipel, 396.
669 födermayr, Vom Pflug, 31; weinberGer, Tatsachen, 98.
670 Kindermann, Konservatives Denken, 215; K. v. KlemPerer, Ignaz Seipel, 106; KlotZ, Sturm,
15.
671 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Einführung, 44–46.
672 Kolb, Bahrrecht, 8.
673 Kolb, Bahrrecht, 14.
674 Kolb, Wiedertäufer, 9.
675 K. luGmayer, Leos Lösung, 39.
5.6 KULTIVIERUNG PERSONALER WERTE 279
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580