Seite - 307 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Bild der Seite - 307 -
Text der Seite - 307 -
druck wissenschaftlichen Interesses am alten Ständewesen die Commission
Internationale pour l’Histoire des Assemblées d’Etat/International Commis-
sion for the Study of Representative and Parliamentary Institutions gegrün-
det.48 Karl Gottfried Hugelmann betonte die Mitwirkung der Stände an der
politischen Willensbildung im Heiligen Römischen Reich seit dem Mittelal-
ter; als von unten aufsteigende, rechtlich anerkannte engere Lebenskreise
hätten sie es über lange Zeit verhindert, dass der Staat „verabsolutiert“ wer-
de.49
Mehrere Mandatare rekurrierten in diversesten Zusammenhängen auf
die alten Geburts- sowie die Reichs- und Landstände.50 Ihre Mentalität be-
schrieb Leopold von Andrian, der in den Geburtsständen eine als Gegensatz
zur animalischen Natur betrachtete „seelisch-geistige Ordnung“ verwirk-
licht sah, ohne die Kultur nicht möglich sei; er hoffte, es möge viel von der
langsam ausklingenden Kulturära des 19. Jahrhunderts ins 20. Jahrhun-
dert weitergetragen werden.51 Erich Braumüller-Tannbruck hob in seinen
populären Ausführungen zum mittelalterlichen Turnier die mit Begriffen
wie „Wehrstand“, „Nährstand“52 und „Standesgewohnheiten“ verbundene
Ehre hervor.53 Auch in Lesebüchern, ja sogar in einer in Klagenfurt beste-
henden Soziologenrunde waren diese Begriffe üblich.54
Franz Kolb, der akademisch ausgebildete Historiker55, rief die Funk-
tion des fränkischen Adels als „Wehrstand“ in Erinnerung, der materielle
Vorrechte und einen Ehrenvorrang besessen habe. Das später den Rittern
zustehende Fehderecht nannte er eine „bedauerliche Erscheinung“.56 Mit
dem Absinken des Ritterstands seit dem 13. Jahrhundert sei die Kluft zwi-
schen Bauern und Rittern kleiner geworden, gerade in Tirol, wo im Bau-
erntum ritterliche Traditionen wirkten; es habe auch eine hohe ständische
Durchlässigkeit gegeben.57 In der Freiheit hätten die Tiroler „einen hohen
Lebenswert der Persönlichkeit und der Gemeinschaft“ gesehen, hierin be-
sonders von Herzog Friedrich (1406–1439) unterstützt, der verhindert habe,
48 stollberG-rilinGer, Vormünder, 3.
49 SZ 15. 1. 1933 (K. G. huGelmann).
50 orGler, Ständestaat, 209; bohn, Ständestaatskonzepte, 26.
51 v. andrian, Oesterreich, 169; vgl. dorowin, Retter, 107.
52 Der Begriff „Nährstand“ für die Bauern begegnet bei mehreren Autoren, vor allem sPinn-
hirn, Agrarpolitik, 13; Zell, Ständische Staats-Gliederung, 10.
53 braumüller-tannbrucK, Ostarrichi, 57.
54 buGelniG, Der Ständestaat, 59; vgl. beyer, Ständeideologien, 155.
55 Er schloss das Studium der Geschichte und Geographie an der Universität Innsbruck 1921
mit einer Dissertation zur Wirtschaftsgeschichte seines Heimattals Navis ab; reitmair,
Msgr. Prof. Dr. Franz Kolb, 17.
56 Kolb, Ehrgefühl, 49.
57 Kolb, Ehrgefühl, 51–53.
6.3 DER STAND UND DAS STANDESGEMÄSSE 307
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580