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des Arbeiterproletariats sei trotz der Besitzlosigkeit ein Stand geworden,
eben der vierte.94 Er sprach auch im Fall der Arbeiterschaft von „Standwer-
dung“95, freilich übersehend, dass gerade 1789 eher Klassenkampf bedeutet
hatte.96 Deutlich erkannten dies hingegen Ignaz Seipel97 und Engelbert Doll-
fuß. Letzterer bemängelte, dass die Revolution den Bauernstand vernachläs-
sigt habe und dass durch sie die Privilegien einzelner Stände zu sehr in den
Vordergrund gerückt seien.98
Oskar Meister ortete 1789 den Beginn einer 1848 vollendeten „Ständeum-
schichtung“. Er berief sich auf Wilhelm Heinrich Riehl99, der Bauern und
Aristokratie „Mächte des sozialen Beharrens“, den dritten und den vierten
Stand „Mächte der sozialen Bewegung“ genannt habe.100 Die Auffassung des
konservativen Kulturhistorikers101, Geistliche, Gelehrte, Beamte und Solda-
ten seien „unechte“ Stände, teilte Meister indes nicht, vielmehr war es ihm
wichtig zu betonen, dass in der Gesellschaftslehre „alles fließt“. Dies könne
man schon daraus ersehen, dass Riehl die Definition des vierten Stands
schwer gefallen sei: Er habe ihn bloß negativ gekennzeichnet, als den, der
keinen festen Platz in der Gesellschaft habe. Gruppen, die man nicht als
Stände im Wortsinn bezeichnen könne, seien Hauseigentümer, Mieter, Ar-
beitslose oder Verbraucher.102
Zwischen „echten“ und „unechten“ Ständen unterschied auch Oskar von
Hohenbruck: Zu Ersteren zählte er die mittelalterlichen Geburtsstände, zu
Letzteren den vierten Stand, dem das positive Standesbewusstsein fehle und
der aus dem Geist verneinenden Klassenbewusstseins heraus die Rechte der
alten Stände beseitigen wolle. Keineswegs blind für irreversible gesellschaft-
liche Entwicklungen, bezeichnete der (selbst adlige) Tiroler Bauernbunddi-
rektor mit Blick auf die Gegenwart den Adel als „bloße Titulatur“, während
die Geistlichkeit im umfassenden Stand der Gebildeten aufgegangen sei.
Dem Bürgerstand sei das einst ausgeprägte gemeinsame Standesgefühl ab-
handen gekommen. Nur der Bauernstand bestehe noch in alter Form. Es
gebe jetzt aber neue Berufsgruppen, die durchaus ein Standesbewusstsein
besäßen, etwa die Beamten. Auch die akademischen Berufe seien geeignet,
94 Andere Denker bezeichnen diesen als Klasse; mannheim, Konservatismus, 87.
95 R. schmitZ, Das christlichsoziale Programm, 24; vgl. LThK/III 9 (2000), 924 f. (N. GlatZel);
Klose, Interessenverbände, 335.
96 orGler, Ständestaat, 209.
97 seiPel, Der Kampf, 57.
98 dollfuss an österreich, 21–23.
99 Vgl. strelow, Wilhelm Heinrich von Riehl, 193.
100 CS 30. 9. 1934 (O. meister); vgl. seeliG, Die „soziale Aristokratie“, 153.
101 GG 6 (1990), 272 f. (Stand/Klasse, R. walther); strelow, Wilhelm Heinrich von Riehl, 198.
102 CS 30. 9. 1934 (O. meister). 6.
STANDESBEWUSSTSEIN312
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580