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Karl Freiherr von Vogelsang bezeichnete das Kleingewerbe als Stand; es
kultiviere hohe, für die Gesellschaft wichtige ethische Werte, wie Berufsehre
oder das Bewusstsein, eine soziale Funktion zu erfüllen.113 Mit Verweis auf
die mittelalterliche Zunft ordnete auch Eduard Ludwig neben Adel und
Bauerntum „Handel, Gewerbe und Industrie“ einem traditionalen Standes-
begriff zu.114 Anton Klotz rückte die mittlerweile eine Realität darstellende
Erweiterung des Spektrums der Berufe ins Licht, gegen die er jedoch Vor-
behalte zu erkennen gab: Händler oder Beamte seien „abstrakte“ Berufe.115
Den Hintergrund dieser Äußerungen bildet die um 1900 erfolgte Neudefini-
tion der Kriterien der Standesbildung: Neben Geburt und Ehre war funkti-
onales Expertentum getreten; den Beruf sah man nicht mehr als Gegensatz
zur geburtsständischen Ordnung, Leistung war zu einem unentbehrlichen
Kriterium geworden.116
An der Schnittstelle zwischen geburtsständischem und leistungsorien-
tiertem Denken setzte Franz Brandl an, der nach dem Zusammenbruch der
Monarchie eine Romanprotagonistin adliger Herkunft ihrem den Verlust
der besitz- und bildungsbürgerlichen Wertmaßstäbe des 19. Jahrhunderts
bedauernden Sohn erklären lässt, er solle sich vor den jetzt mächtig wer-
denden Anonymen nicht fürchten: Auch diese hätten das Recht auf Persön-
lichkeit und würden zur Bürgerlichkeit aufsteigen, „aber es wird nicht die
Bürgerlichkeit des Genusses, sondern die der Arbeit sein. Arbeit und nichts
anderes wird der Sinn der neuen Zeit sein. Auch du wirst dich in diese Front
eingliedern, dank deinem Schicksal und deinen Fähigkeiten auf gehobenem
Posten. Freilich, es könnte auch völlig anders kommen, es könnte auch eine
Senkung des ganzen Niveaus bis hinab zu den Atomen erfolgen, aus denen
ein einzelner Wille eine willenlose Masse formt. Das allerdings wird dann
eine Zeit sein, an die ich nicht denken mag“.117
Um einen neuen Aspekt bereicherte Richard Schmitz den Diskurs: Mit
„Standesverein“ bezeichnete er „eine gesellschaftliche Gruppe, die durch
soziale Eigentümlichkeiten ihrer Umwelt bestimmt ist“. Würden sich die
Menschen mit Idealismus, Opferfähigkeit und christlicher Hingebung ihrer
Tätigkeit widmen, ergäben sich daraus eine spezifische Berufsehre und ein
kraftvolles Standesbewusstsein.118 Schmitz unterschied auch zwischen wirt-
schaftlichen und kulturellen Ständen und sprach vom Stand der Gebildeten
113 allmayer-becK, Vogelsang, 138.
114 ludwiG, Österreichs Sendung, 150 f.
115 KlotZ, Probleme 2, 159.
116 P. nolte, Ständische Ordnung, 238–241.
117 brandl, Ein Reich, 776 f.
118 SZ 17. 6. 1934 (R. schmitZ). 6.
STANDESBEWUSSTSEIN314
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580