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Für Leopold Figl und Julius Raab war die Verwurzelung des Bauern im
Boden ein hoher Wert.326 Franz Kolb lobte das Erbbaurecht des Tiroler Bau-
ern (er sprach von einem „höheren Verhältnis zum Besitz“), aus dem sich
„eine Art Berufsethos“ ergebe, während Pachtverhältnisse „dem kurzfris-
tigen egoistischen Interesse“ Raum böten.327 Karl Lugmayer betrachtete
Grundeigentum als Garanten für Frieden und Ordnung.328 Gleich Jakob
Stoiber329 befürwortete er den geschlossenen Hof nach Tiroler Muster.330
Wichtig in Hinblick auf die Abgrenzung vom Nationalsozialismus ist
Guido Zernattos Standpunkt, die Erde vermittle stärkere Kräfte, als es die
bloß rassenmäßige Zusammensetzung des Menschen sei; der Mensch müsse
nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Raum geordnet werden. Der
Staat des Nationalsozialismus kenne keinen Raum, sein Patriotismus sei
Anhänglichkeit an die Doktrin. Demgegenüber habe der Patriotismus des
Österreichers in der Liebe zum Land seinen Ausgangspunkt. Der bäuerliche
Mensch richte sich nach der Lage seines Besitzes, die ihn präge.331
Aus demselben Grund bezeichnete Clemens Holzmeister die „Bebauung
der Scholle“ als einen die Menschheit von Anbeginn beherrschenden Trieb332
und das Bauernhaus als den „Inbegriff des Bodenständigen“: Hier sei nie
ein Architekt am Werk gewesen, gleichwohl hätten von hier die großen Stile
ihren Ausgang genommen.333 Richard Schmitz sprach vom Eigenheim „auf
eigener Scholle“, das Tröster und Retter in der Not sei und das Erdendasein
des Menschen überdauere.334 Hermann Struber forderte von der Politik ei-
gentumsfördernde Maßnahmen; es sei eine wirkungsvolle Maßnahme gegen
die Arbeitslosigkeit, „Erwerbs- und Ergänzungssiedlungen“ zu schaffen.335
Zur Art, derlei Forderungen politisch umzusetzen, äußerte sich Gertrud
Spinnhirn: Es gelte gesetzlich zu verhindern, dass „lebensunfähiger Zwerg-
besitz“, aber auch „den Interessen des Volkes widersprechender Latifundi-
enbesitz“ entstehe.336 Spinnhirn machte sich auch zur Anwältin des klassi-
ren Ständen thematisierte, erinnert ihre Diktion allerdings an nationalsozialistische Mus-
ter; ebd. 9 f.; ähnlich rintelen, Erinnerungen, 50–53; seyss-inQuart, Vier Jahre, 172.
326 fiGl, Reden, 98; ninführ, Julius Raab, 65.
327 Kolb, Bestandsverträge, 157.
328 K. luGmayer, Grundrisse, 31; streitenberGer, Leitbild, 22.
329 stoiber, Agrarrecht, 47.
330 K. luGmayer, Grundrisse, 89.
331 Zernatto, Die Wahrheit, 16–19; vgl. Zimmer, Guido Zernatto, 105.
332 Knofler, Clemens Holzmeister, 1265.
333 Knofler, Clemens Holzmeister, 1276; lasinGer, „die pause“, 106 f.
334 vallaZZa, ,,Wir bauen auf“, 310–312.
335 struber, Österreichs Wiederaufbau, 51–56.
336 sPinnhirn, Agrarpolitik, 25 f.
6.5 BAUERNTUM ALS IDEAL 333
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580