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zu einer Idealisierung der bäuerlichen Welt347, in der er eine jener von ihm
gewünschten dem Markt vorgelagerten Kräfte jenseits von Angebot und
Nachfrage sah, wo geistig-moralische Werte, religiöse und kirchliche Bin-
dungen sowie eine gute allgemeine Sozialstruktur gegeben seien.348
Das Ganze Haus und die alteuropäische Ökonomik349
Eine wichtige Größe in der Gesellschaftsstruktur der adeligen und der bäuer-
lichen Welt war bis weit ins 19. Jahrhundert das klassische „Ganze Haus“350,
jene als Oikos bereits von Aristoteles beschriebene351 Wohn- und Lebensge-
meinschaft von Blutsverwandten und Dienstboten, in der lange Zeit nur der
Vater politische Rechte besaß352, nach konservativer Auffassung353 die grund-
legende Einheit der Gesellschaft und die Vorstufe des Staates.354
Das Denken der Mandatare, die sich dazu äußerten, war, in Analogie zu
dem Othmar Spanns355, von Bildern der Harmonie geprägt. Detailliert be-
schrieb etwa Johann Blöchl die „Arbeitsverfassung“ auf seinem Heimathof,
wo zehn Dienstboten beschäftigt gewesen seien, deren „Rangordnung“ er
auch Jahrzehnte später noch genau anzugeben wusste356; dem sozialen Emp-
finden seiner Mutter sei es zu verdanken, dass in ihrem Haus die Mägde in
der Regel jahrelang geblieben seien.357 Ähnliche Erinnerungen hatte Florian
Födermayr.358 Jakob Stoiber traf derlei Feststellungen noch für die späten
vierziger Jahre.359 Engelbert Dollfuß lobte die „stille(n) und opferbereite(n)
Pflichterfüllung“ der Bäuerin.360 Nicht anders beschrieb Friedrich Funder
347 mooser, Liberalismus, 138.
348 mooser, Liberalismus, 143.
349 Dieser Titel lehnt sich an eine zum Klassiker gewordene Arbeit Otto Brunners an (Anm.
351).
350 menninG, Adel, 177.
351 brunner, Das „ganze Haus“; rembold, Das Bild, 59.
352 fiGl, Ansichten, 149; R. schmitZ, Der Weg, 38; vgl. hanisch, Konservatives und revolutionä-
res Denken, 177; Kriechbaumer, Front, 19; Kriechbaumer, Erzählungen, 46 f. und 590–592;
steiner, Wahre Demokratie?, 169.
353 Sehr bekannt: Wilhelm Heinrich Riehl; strelow, Wilhelm Heinrich von Riehl, 204 f.
354 Kondylis, Konservativismus, 264; vgl. auch habermann, Das Maß, 24.
355 resele, Ständestaatskonzeption, 57.
356 blöchl, Lebenserinnerungen, 16 f. und 63.
357 blöchl, Lebenserinnerungen, 77.
358 födermayr, Vom Pflug, 57 und 60; vgl. rintelen, Erinnerungen, 49.
359 stoiber, Agrarrecht, 264; seine Wahrnehmung wird durch die rezente sozialgeschichtliche
Forschung bestätigt; brucKmüller, Bauern, 118.
360 dollfuss an österreich, 153.
6.5 BAUERNTUM ALS IDEAL 335
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580