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die Gemahlin des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand.361 Das harmoni-
sche Zusammenleben aller Hausgenossen, von dem hier die Rede ist, ist die
exakte Umsetzung der von Anton Thir in seinen Predigten begründeten, auf
biblische Beispiele sich stützenden Mahnungen.362 Da die Dienstboten, so in
Anlehnung an Franz Martin Schindler363 und andere katholische Moraltheo-
logen364, ebenfalls dem vierten Gebot unterlägen365, habe der Vorgesetzte ih-
nen gegenüber außer Rechten vor allem Pflichten.366
Für Hans Karl Zeßner-Spitzenberg war die Integration der Arbeitskräfte
in die Hausgemeinschaft ebenfalls nicht nur wirtschaftlicher, sondern „ar-
beitsethischer“ Natur: Den Arbeitnehmer verpflichte sie zu größerer Dienst-
bereitschaft und zur Unterordnung unter eine Art Herrschaftsbefugnis; dem
„Arbeitvergeber“ kämen dadurch mehr Pflichten zu.367 Es sei ein Fehler,
wenn Landwirte „unter dem Zwang der Vorstellung, alle Maßnahmen einzig
und allein unter dem Mikroskop der Kalkulation betrachten zu müssen, auch
ihre Arbeiterfragen einseitig rein kontomäßig lösen“.368 Dies wirke sich mit-
telfristig auch wirtschaftlich negativ aus.369 Franz Kolb würdigte als Aspekt
einer „moralischen Ökonomie“ (E. Hanisch370) die vielen Bauernfeiertage, die
in Tirol bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts eingehalten wurden.371
Dieses Thema macht strukturelle Parallelen des ständestaatlichen Wirt-
schaftskonzepts zu dem der Barockzeit sichtbar, die ebenfalls einen Primat
wirtschaftlicher Überlegungen vor politischen und kulturellen nicht zuließ
und hohe ökologische und wirtschaftsethische Standards besaß.372
Untrennbar mit dem Modell des Ganzen Hauses verbunden war das Prin-
zip der Autarkie, die von Otto Brunner von der modernen Ökonomie unter-
schiedene Ökonomik. In Anlehnung an Vogelsang373 waren statt „Ökonomik“
auch die Begriffe „Bedarfswirtschaft“ oder „Privatwirtschaft“ üblich; das
Gegenstück bildete die sogenannte „Gewinnwirtschaft“. Hermann Stipek374
und August M. Knoll bescheinigten Kaiser Franz II./I., für die Bedarfswirt-
361 funder, Vom Gestern, 381.
362 2 Kor 12, 14; Apg 8, 26–40, Act 12, 13 ff.; thir, Frauengestalten 1, 50.
363 schindler, Lehrbuch III, 759 und 780–784.
364 Kustatscher, Haus und Familie, 155–158.
365 thir, Frauengestalten 1, 60; thir, Frauengestalten 2, 80 f.
366 thir, Frauengestalten 2, 147–150.
367 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Einführung, 106.
368 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Einführung, 1 f. und 19 f.
369 H. K. Zeßner-sPitZenberG, Einführung, 47.
370 hanisch, Der lange Schatten, 97 f.; hanisch, Die Politik, 25.
371 Kolb, Das Tiroler Volk, 22.
372 hersche, Gelassenheit, 40–42 und 46 f.
373 streitenberGer, Leitbild, 91.
374 stiPeK, Das Werden, 8. 6.
STANDESBEWUSSTSEIN336
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Titel
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Untertitel
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Autor
- Erika Kustatscher
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien - Köln - Weimar
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Abmessungen
- 17.4 x 24.6 cm
- Seiten
- 682
- Schlagwörter
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580